Zweite Förderphase

Die zweite Förderphase dient dem Vergleich, der Vertiefung und der Systematisierung der gewonnenen Erkenntnisse, sowie ihrer Rückbindung an andere geisteswissenschaftliche Diskussionen. Ziel ist die methodische und begriffliche Erarbeitung der Grundlinien einer technisch informierten Kulturtheorie der Computersimulation (CS). Dazu dienen die Leitbegriffe „Politiken, „Zeitlichkeiten und „Materialitäten. Die Forschung wird an deren Schnittfeldern und Interdependenzen stattfinden und in einer doppelten Wendung eine Kulturtheorie der CS entwickeln, indem sie die Möglichkeitsbedingungen einer solchen zugleich am Gegenstand CS problematisiert. Ziel ist damit eine (für andere Disziplinen herausfordernde) Kulturtheorie der CS und dadurch die nachhaltige Etablierung des Themas in der geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaft. Alle Informationen zur zweiten Förderphase können Sie sich zudem bequem als PDF herunterladen.

Weiterführung in der zweiten Förderphase

An die erste Förderphase und ihre fallstudienbasierte, explorative und komparative Analyse der epistemotechnischen Voraussetzungen und Transformationen der Computersimulation in verschiedenen Wissens- und Wissenschaftsfeldern schließt sich in der zweiten Förderphase eine Zuspitzung dessen an, was wir im Erstantrag »Grundorientierung in der Welt« genannt haben. Unser Ziel besteht in der Ausarbeitung einer medientechnisch informierten Kulturtheorie der Computersimulation. Mit diesem Anspruch möchte das MECS die – in der ersten Förderphase noch gesetzte – Beschränkung auf den Simulationsgebrauch verschiedener Wissenschaften erweitern, indem die maßgeblichen Konsequenzen der CS jenseits der durch sie transformierten, wissenschaftlichen Epistemologien in den Blick genommen werden. Damit wird zugleich der Begriff der Medienkulturen konkretisiert, unter dem das MECS firmiert.

Hierzu sollen die bisher gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf eine transformierte Wissenschaftlichkeit der CS aufgenommen und im Hinblick auf die Dynamiken und Konsequenzen von CS für konkrete Wirklichkeitsfelder synthetisiert und erweitert werden. Man könnte von simulationstechnischen »Weisen der Welterzeugung« sprechen, um einen Begriff aufzunehmen, den Nelson Goodman im Anschluß an Ernst Cassirer geprägt hat. Damit konstatieren wir jedoch gerade nicht eine Welt des sogenannten ›Scheins‹, wie es die zeitdiagnostische Literatur (sei es nun in kulturkritischer oder affirmativer Weise) seit Jahrzehnten getan hat. Im Erstantrag unterstellten wir als zentrales Moment wissenschaftlicher CS eine Wendung von ›Repräsentation‹ in Richtung ›Präsentation‹. Doch die aktuell relevantesten Aspekte der CS sind gerade nicht dort zu heben, wo diese primär als nachgeordnete dynamische Modellierungstechniken mit fraglicher Validität begriffen werden, oder wo sich CS als angeblich schleierhafte Stellvertretung über empirische Realitätsbezüge legte. Zu den wesentlichen Beobachtungen der ersten drei Jahre, auf die wir mit den Leitbegriffen der zweiten Förderphase reagieren wollen, gehört, daß Computersimulationen maßgeblich bei der Herausbildung veränderter Zeitsemantiken und sozialer Konstruktionen von Zeit intervenieren, daß sich neue Formen der Kontrolle, des Regierens und des Steuerns auf sie gründen und daß sie zuletzt auch immer tiefer auf das materielle Gefüge der Welt durchgreifen und bereits die philosophische Forderung nach neuen Ontologien provoziert haben.

Eine wesentliche Herausforderung der zweiten Förderphase wird insofern darin bestehen, das Argumentationsmodell kulturpessimistischer »Scheintheorien« zu überwinden, wie sie etwa von Jean Baudrillard im Rahmen seiner Repräsentationskritik aufgestellt wurden, der eine Ununterscheidbarkeit von Simulation und »Wirklichkeit« im Sinne einer melancholischen Kulturkritik beklagt und davon unangetastete Residuen des Realen (Verführung, Magie, Graffiti usw.) aufzuspüren sucht. In Gegensatz dazu legen unsere Forschungsergebnisse nahe, daß eine bloße Repräsentationskritik zu kurz greift. Vielmehr wagen wir nach den ersten drei Jahren des Kollegs die Vermutung, daß man eine Kritik gegenwärtiger CS auf der Ebene des Scheins selbst ansiedeln und eine Kritik der platonisch geprägten Denktradition und ihrer Logik von »Sein und Schein« unternehmen müßte, weil diese angesichts der welterzeugenden Kraft von CS nicht mehr greift. Demnach steht (wie im Erstantrag angedeutet wurde) auch die historische Semantik des Simulationsbegriffs zur Disposition, die – wenn schon nicht verabschiedet – nun diskutiert und von der Epistemotechnik der CS klar unterschieden werden müßte.

Dementsprechend fragen wir im Anschluß an die Anamnesen eines geänderten Wissens, neuer wissenschaftlicher Probleme und eines modifizierten Wissenschaftsverständnisses nun nach den historisch entstandenen und gerade entstehenden Weltverhältnissen der CS. Deren Wirkmächtigkeit als realitätsgebende Verfahren konkretisiert sich – so läßt sich auf Basis der Erkenntnisse der ersten Förderphase feststellen – vor allem in den Schnittflächen und in den Verbindungssträngen von drei elementaren Querschnittsthemen: den Politiken, den Zeitlichkeiten, und den Materialitäten der CS. Diese drei Begriffe sind für sich genommen keinesfalls neu, sie werden jedoch durch CSTechnologien tiefgreifend restrukturiert.

Leitbegriffe

  • (a) Politiken
  • (b) Zeitlichkeiten
  • (c) Materialitäten

Leitbegriffe

(a) Politiken

Der Begriff der Politiken schließt an die bisherige Arbeit des Kollegs zum Aspekt »Handeln« an. Standen bei bisherigen Tagungen konkrete Fälle wie Klimapolitik (»Climate Change«, 2015) oder agentenbasierte Social Simulations (»Agent Cultures« 2016) im Vordergrund, so fassen wir nun unter dem Begriff Politiken das generelle Grundproblem, »daß aufgrund fiktiver Szenarien, historisch kontingenter Modelle und Bilder, Qualität, die von Hardwareentwicklungen und Validität, die von Standardisierungen abhängt, globale Entscheidungen getroffen werden« (Einrichtungsantrag). Es geht also nicht bloß darum, den Einfluß von CS auf ein bestimmtes Politikfeld (z.B. Nachhaltigkeit) zu untersuchen, oder sie auf eine Methodik (z.B. Computational Sociology) zu begrenzen. Vielmehr soll CS als Epistemotechnik begriffen werden, die wesentlich die Möglichkeitsbedingungen von politischen Entscheidungen, von politischer Steuerung und Planung verschoben und neu konfiguriert hat.

Einerseits zählt dazu das Verhältnis von CS zur Komplexität des Sozialen. Die Idee, Gesellschaften mittels Computersimulationen zu steuern, sie in ihrem Verhalten plan- und vorhersehbar zu machen, ist eng verbunden mit der Übertragung des Komplexitätsbegriffs aus der allgemeinen Systemtheorie und Kybernetik in die Politikberatung, Policy-Forschung und Sozialtheorie in den 1970er Jahren. Computersimulationen sollen hier die anders »fehlenden kognitiven Sicherheiten« (Renate Mayntz) ausgleichen und sind zugleich an neuen Wahrnehmungsweisen und Wirklichkeitskonstruktionen beteiligt. CS interveniert seitdem maßgeblich dort, wo Problemstellungen überhaupt definiert werden, wo Interventionsoptionen diskutiert werden, wo Denkweisen von Sozialität entstehen, wo neue Arten politischer Intervention und Steuerung bzw. Regierungskunst diskutiert werden, und wo zuletzt auch das Denken von sozialer Komplexität durch CS auf Gesellschaftstheorie zurückwirkt (etwa bei Niklas Luhmann).

Andererseits wirkt CS auch in den Kernbereich des Politischen: die Entscheidung. Entscheidungen werden längst nicht mehr dezisionistisch oder mechanistisch aufgefaßt, sondern als grundsätzlich in kontingente und komplexe Entscheidungsketten auflösbar, die damit modellier- und simulierbar werden. (Wobei die epistemologische Zurichtung der Simulation durch das Medium Computer (Entscheidbarkeitsparadigma) selbst mitberücksichtig werden muß.) Im Computational Decision-Making etablieren sich damit CS als ein gängiges Entscheidungstool für Situationen fehlender Daten, sei es, weil diese (noch) nicht aufgezeichnet wurden, sei es, weil diese so selten sind, daß sich keine Voraussagen in Situationen gewinnen lassen, in denen gleichwohl Entscheidungen getroffen werden müssen. Der Begriff Politiken bietet insofern auch Anschlüsse an den in der ersten Förderphase begonnenen Dialog zwischen Medienwissenschaften und Organisationssoziologie.

(b) Zeitlichkeiten

Die Frage der Zeitlichkeiten der Simulation führt unsere Forschungen zu simulationsbasierten Szenario-Techniken und zu veränderten Zeitsemantiken weiter. Der Einsatz von CS geht einher mit Formen der Kolonisierung und ununterbrochenen Rückkopplung der Gegenwart durch und mit computersimulierten Zukünften und Szenarien. Gleichwohl eine sich gegenwärtig verändernde Zeitsemantik verschiedentlich als »breite Gegenwart« (Gumbrecht), als »Gegenwartsvergessenheit« (Hagen), »Eigenzeit« (Nowotny) oder »Zeit aus den Fugen« (Assmann) diagnostiziert worden ist, blieb in solcherart Beschreibungen die eminente Bedeutung digitaler Medientechnologien der CS unberücksichtigt.

Einerseits erzeugen CS Zukünfte, die sie als ebensolche zugleich definieren und operationalisieren. Zuspitzungen wie Klimakatastrophe, Peak Oil, Super-GAU oder das ebenso schlichte wie sprechende Kalter-Kriegs-Kürzel MAD (Mutually Assured Destruction) entstehen erst in Situationen, in denen CS ein Denken des Undenkbaren in einem Fächer beliebiger Szenarien zwischen wünschenswerten, zu vermeidenden oder gar völlig abstrusen Zukünften gewähren. Zugleich skizzieren CS immer schon gegenwärtige Lösungs- und Verhaltensoptionen für jene Krisen und Katastrophen, die sie selbst erst formulierbar gemacht haben. Sie gewinnen ihren originären Maßstab damit oftmals nicht an ›realen‹ Ereignissen, sondern an deren Vermeidung.

Andererseits modifizieren CS in grundlegender Weise die für die Moderne seit der Sattelzeit konstitutive soziale Konstruktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Distanz zwischen Erfahrung und Erwartung aus der heraus die Gegenwart zum Austragungsort einer offenen Zukunft werden konnte, wurde und wird – so unsere Hypothese – durch CS-Technologien grundlegend restrukturiert. Gleichwohl Erwartungen weiterhin das soziale und politische Handeln antreiben, sind sie von der Semantik einer »offenen Zukunft« mittlerweile weit entfernt und haben sich einem real oder scheinbar Machbaren und seinen Risiken zugewendet, das durch CS erst kalkuliert und vorgelegt wird. In Anlehnung an Christian Geulen kann man daher heute von einer Umkehrung der Koselleck’schen Metaphorik von »Erwartungsraum« und »Erfahrungshorizont« sprechen: Wir leben inmitten vielfältigster Erwartungen und warten auf Erfahrungen. Damit eröffnen CS und die von ihnen implizierten zeitlichen Ordnungen jedoch einen originären Standpunkt im Hinblick auf die Thematisierung von ›Realität‹ und eine markante Verschiebung im temporalen Gefüge der Moderne.

(c) Materialitäten

Die Frage nach den Materialitäten der Simulation nimmt die materiellen Einschreibungspraxen der Simulation genauer in den Fokus. Diese materiellen Einschreibungspraxen verändern nicht nur aktuell die infrastrukturellen Bedingungen der Wissenschaften und ihrer Methoden, sondern transformieren in absehbarer Zeit auch grundlegend die Logik der Forschung. Diese Beobachtungen ergeben sich aus der engen transdisziplinären Zusammenarbeit mit Physikern, Klimaforschern, Biologen und Architekten während der ersten Förderphase, sind jedoch als eigener Phänomenbereich genauer zu untersuchen und medien- und kulturtheoretisch einzuordnen. Denn die materiellen Einschreibungspraxen gestalten sich zweifach:

Einerseits schreibt sich die Simulation als eine spezifisch strukturierte Form der Softwarecodierung in die Wissensbasis der Wissenschaften ein und transformiert deren Wissensbestände in Algorithmen. Softwarecode ist hier als Materialisierung des Simulationsansatzes zu verstehen, der es erlaubt, Codestücke bis hin zu ganzen Simulationsmodellen in der Scientific Community exportierbar zu machen (z.B. Workshop »Traveling Codes«). Dies geht mit einer Ubiquität (Symposium »<interferences|events>«) und Demokratisierung des Zugangs von Simulationsmodellen einher, die seit einigen Jahren zunehmend auf ›Community-Plattformen‹ zur Verfügung gestellt werden (z.B. US-NCAR Community Earth System Model), die aber auch durch Standardisierungen vergleichbarer werden (z.B. SBML Systems Biology Markup Language; CMIP Climate Modeling Intercomparison Project). Dies führt auf Seiten wissenschaftlicher Experimente zur immer wichtiger werdenden Anforderung der Machine-Readability, um empirische Ergebnisse direkt in Simulationsmodelle einspeisen zu können.

Andererseits schreibt sich die Simulation durch Technologien des 3D-Druckens, des Rapid Prototyping und der additiven Herstellungsverfahren direkt in die Materialität der Objekte ein. Dies betrifft nicht nur die klassischen Bereiche des Engineering oder der Architektur (Tagung »Computational Design Culture«), sondern durch verfeinerte Druck- und Herstellungsverfahren neuerdings auch die Physik, Chemie, Medizin, Biologie oder die Materialwissenschaften. Indem Simulationsresultate in Druckdateien und CNC-Codes umgesetzt werden können, greift die Simulation direkt ins Materielle aus und schafft ontologisch neue Objekte, die bislang nur im Computer existierten. Industrie-organisatorisch haben sich Simulationsverfahren, wie sie historisch z.B. schon beim Entwurf und bei der Produktion des iPhones richtungsgebend waren, mittlerweile  als Production Systems and Design Technology materialisiert (z.B. das Fraunhofer IPK). Sie spielen unter dem Schlagwort der »Industrie 4.0« eine maßgebliche – wenngleich geisteswissenschaftlich weitgehend unbeforschte – Rolle.

* * *

Die Arbeit des Kollegs während der ersten Förderphase hat gezeigt, daß eine getrennte Behandlung solcher Leitbegriffe nur schwer aufrecht zu erhalten ist, und daß es forscherisch weit einträglicher ist, gerade bei deren Verflechtung und Wechselspiel anzusetzen. Konsequenterweise setzt unsere Theoriebildung daher an den Schnittfeldernzwischen Politiken, Zeitlichkeiten und Materialitäten an. Dazu gilt es nicht zuletzt, auch das methodische Instrumentarium der ersten Förderphase zu erweitern, weil erkennbar wurde, daß die leitenden Prämissen von Medientheorie, Wissenschaftsgeschichte und (Sozial-)Konstruktivismus im Feld der CS an ihre Grenzen gelangen. Die komplexen kulturellen Dynamiken und Konsequenzen der CS lassen sich nicht mehr ausreichend durch den Verweis auf digitale Medientechnologien und eine mikro-technische Aufklärung über Hard- und Software allein begreifen und beschreiben. Umgekehrt reicht  auch eine an Materialitäten und dem Umschlag von epistemischen in technische Dinge interessierte Wissenschaftsgeschichte (auch in ihrer eher deskriptiven Spielart der ANT) nicht hin, wenn es im Rahmen von CS um Fragen des Code oder um eine Explosion epistemischer Dinge geht, die durch die Immaterialität und Komplexität von Algorithmen entsteht. Zuletzt zeigt sich auch die Beschränktheit sozialkonstruktivistischer Theorien, insofern, als sie sich in ihren Grundlagen als Teil einer Episteme der Computersimulation rekonstruieren lassen und damit eine paradoxe Verstrickung von Beobachtetem und Beobachten eingehen, wie wir im Erstantrag bereits vermutet haben.

Mit der expliziten Frage nach einer Kulturtheorie der Computersimulation setzen wir – über die Schnittfelder unserer Grundbegriffe »Materialitäten«, »Zeitlichkeiten« und »Politiken«an, diese methodischen Prämissen zu transzendieren, indem wir die Frage nach der Theorie selbst in den Mittelpunkt stellen und mitreflektieren. Denn es ist beobachtbar, daß Lieder vom »Ende der Theorie« (Chris Anderson) bis hin zu grundlegenden Neuformulierungen der Gegenstandsbereiche und Begrifflichkeiten Konjunktur haben: Dies reicht von Big Data über die Quantenphysik bis hinein in die Geisteswissenschaften und ihre Rufe nach ›Neuen Theorien‹, aktuell etwa bei Bruno Latour, Manuel DeLanda, Mark B. N. Hansen oder Dirk Baecker. Wo also die Frage nach der Theorie selbst in Frage steht, geht es für das MECS um die Suche und Formulierung jenes Bereichs, der seinerseits diese Reflexion der neuerlichen »Erdung« von Theorie reflektiert bzw. verhandelt.

Andererseits widmen wir uns – als geisteswissenschaftliches Kolleg – dabei den eminenten Gegenstandsbereichen einer kulturwissenschaftlichen Forschungstradition, um daraus eine auf medientechnologisch geprägte Formen der Welterzeugung bezogene Kulturtheorie der CS zu entwickeln. Computersimulationen als Merkmal und Motor gegenwärtigen Wandels verweisen dabei auf ein komplexes Wechselspiel von Medientechnologie und »kultureller Form[ung] der Welt« (Wolfgang Frühwald) und auf nicht präjudizierbare Wechselwirkungen, aus denen neue, originäre Qualitäten der Welterschließung und -erzeugung hervorgehen. Solche »Medienkulturen der CS« theoretisch zu konzeptualisieren und methodisch adäquat beschreiben zu lernen und dabei eine spezifische Kulturwissenschaft des Digitalen Zeitalters auszugestalten, erscheint uns als eine Herausforderung der Gegenwart, die zugleich für die künftige gesellschaftspolitische Relevanz der Kulturwissenschaft maßgeblich sein wird.

Als Konsequenz dieser Einsichten setzen wir in der zweiten Förderphase gezielt auf jene drei Schnittfelder, die sich zwischen Politiken, Zeitlichkeiten und Materialitäten der CS ergeben und entwickeln unsere Fragestellungen aus den dort entstehenden Interferenzen. Diese Schnittfelder bezeichnen wir zugleich mit den signifikanten Funktionen, die CS an dieser Stelle ausüben. Sie sind als paradigmatische Fluchtpunkte zu verstehen, an denen sich die von der CS hervorgerufenen Friktionen moderner Sinndimensionen, Semantiken, Materialitäten oder Zeitlichkeiten spezifisch niederschlagen und von dort aus wiederum auch erfassen lassen.

Schnittfelder

  • (a) Politiken | Zeitlichkeiten – Entscheidungen
  • (b) Materialitäten | Politiken – Faktizitäten
  • (c) Zeitlichkeiten | Materialitäten – Verfügbarkeiten

Schnittfelder

(a) Politiken | Zeitlichkeiten – Entscheidungen

Politiken und Zukünfte werden zunehmend über simulationsbasierte Entscheidungen vermittelt, wobei wir Entscheidung als jenes Konzept betrachten, das konstitutiv mit einer modernen Zeitordnung der »offenen Zukunft« und damit auch mit Formen wie Partizipation, Argumentation und Öffentlichkeit verbunden ist. Dabei beobachten wir im Rahmen des Einsatzes von CS einen Paradigmenwechsel von probabilistischen hin zu possibilistischen Entscheidungsbedingungen. CS bereiten Entscheidungsoptionen nicht mehr allein auf der probabilistischen Berechnung von Datenreihen aus der Vergangenheit auf, um in regelmäßig auftretende Ereignisse in der Zukunft zu intervenieren. In der Durchrechnung aller möglichen Zukünfte zielt CS vielmehr auf einen possibilistischen Raum des Zukünftigen in Form von multiplen Szenarien. Zugleich ist Simulation von Fiktion zu unterscheiden, denn Fiktion erfindet eine signifikante und repräsentative Zukunft, die für alle anderen stehen soll, während Simulation den Handlungsraum möglicher Zukünfte durch die errechneten Szenarien schlicht ersetzt. Simulationen erzeugen daher – gerade in der und durch die Vielzahl ihrer alternativen Szenarien – eine ›alternativlose‹ Zukunft. CS stellen gesellschaftliche Prozesse irreversibel auf Zukünftigkeiten um und verankern gewissermaßen das Denken selbst im Futurum Exactum. Ermöglicht werden dadurch Strategien eines ununterbrochen in der Gegenwart intervenierenden Zukunftshandelns, die unter Begriffen wie preemption, precaution und preparedness firmieren und in denen sich die Möglichkeitsbedingungen von politischer Intervention, Steuerung und Planung verschoben und neu konfiguriert haben. Daraus ergeben sich z.B. folgende Fragen:

Auf welche Weise greifen CS in zeitliche Regimes ein, indem sie zum Attraktor von neuartigen Imaginationen und Erwartungen an die Zukunft werden? Wie wird das Politische durch die spezifische »Zeitgebung« der CS neu oder anders getaktet? Inwieweit und auf welche Weisen lösen sich die soziotechnischen Beschreibungsbedingungen von Gesellschaft von etablierten statistischen Verfahren und verwandeln sich in mikroanalytische und permanente Trackings? Und inwiefern erfahren umgekehrt statistische Verfahren ein Re-Entry als unerläßliche Operationsbedingungen für die Analyse großer Datenbestände?

Was bedeutet es, wenn konstruktivistische Theorien des Politischen selbst von einer Episteme der CS geprägt sind? Was bedeutet es, wenn postkonstruktivistische Konzeptionen des Politischen nicht mehr Repräsentation durch Verschaltung ersetzen und dabei das Politische auf binäre Codierungen von Regierung/Opposition, Wählen/Abwählen beschränken können? Welche Implikationen hat dies für den Begriff des ›Risikos‹ als »eine[r] Weltkonstruktion mit Hilfe der Differenz der Endloshorizonte Vergangenheit und Zukunft« (Luhmann), falls und wenn CS diese moderne Zeitordnung revidieren – und damit Zeit als Form des Beobachtens?

Wie verhält sich diese Diagnose in Bezug auf CS zu rezenten Diskussionen um »das Politische« (Marchart/Mouffe), aber auch zur Ökologisierung der Politik (Latour) oder zur Kosmopolitik (Stengers) und wie können diese Ansätze für eine Kulturtheorie der CS fruchtbar gemacht werden? Inwiefern verschärfen CS als politische Epistemotechnik die Krisenhaftigkeit der Moderne bezüglich ihrer eigenen Handlungsgrundlagen? Und inwiefern könnte dieser Umstand möglicherweise als Ausdruck »neuer Souveränitäten« oder »postmoderner Arkana« (Claus Pias) gelesen werden?

(b) Materialitäten | Politiken – Faktizitäten

Materialitäten und Politiken verschränken sich in neuer Weise, insofern die CS neue Faktizitäten schafft und so in die Distinktionslinien zwischen Virtuellem und Materialem modifiziert. Die sich in der sogenannten »Industrie 4.0«, aber auch zunehmend in der Biologie, der Architektur und anderen Bereichen durchsetzenden Produktionspolitiken des 3D-Druckens und des Rapid Prototypings transformieren Simulationsdesigns direkt in neue Objekte und Materialitäten. Zugleich dient die CS der Echtzeit-Steuerung von Produktionsabläufen (Prozeßsteuerung) sowie der Echtzeit-Erkennung und -Handhabung von Betriebszuständen. Damit gerät der produktionell-materielle Ablauf selbst in einen Mischzustand aus Virtualität, Digitalität und Realität – CS eröffnen jene bereits früh diagnostizierte »Dritte Industrielle Revolution« (Wiener), die mittlerweile komplette Wertschöpfungsketten betrifft. Die Schaffung neuer Faktizitäten geht damit weit über technische Ebenen hinaus und greift aktuell in Form neuer Methodenansätze in die Wissenschaftspolitik ein – Stichwort: ›Engineering of Science‹. Aus diesen Beobachtungen ergeben sich folgende Fragestellungen:

Auf welche Weise modifizieren CS Faktizität in wirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Verhältnissen? Welche prozessualen Verschiebungen resultieren daraus? Was heißt »Produktion« unter computersimulatorischen Bedingungen in Industrie und Wissenschaft? In welcher Weise verschränken sich Materialitäten und Politiken im Wissenschaftsbetrieb und welche methodischen Verschiebungen resultieren daraus?

Welche Ontologien eröffnen sich durch die neuen Faktizitäten? In welchem Verhältnis positionieren wir uns zu diesen neuen Ontologien? Welche epistemische Rolle erhält das Design über traditionelle Gestaltungswissenschaften hinaus, wenn z.B. im Labor neue Organismen designt und mit 3D-DNA-Druckern ausgedruckt werden? Welche Perspektiven auf Physikalität, das Leben, oder die gestaltete Umwelt realisieren sich dadurch?

Welche epistemisch verankerten Demarkationslinien verschieben sich, wenn sich z.B. in der Physik mit Event-by-Event-Simulationen die Unterscheidung von Theorie und Experiment auflöst? Welche neuen Wissensformen der Forschung generieren sich daraus? Welche politischen Widerstände erzeugt dies im Wissenschaftsbetrieb? Welche neuen Forschungstechniken und -logiken bilden sich?

(c) Zeitlichkeiten | Materialitäten – Verfügbarkeiten

Zeitlichkeiten und Materialitäten verzahnen sich durch die »In-Silico-Materialität« der Daten, Simulationssoftwares und Codes zu Verfügbarkeiten. Hinzu kommt – in umgekehrter Laufrichtung der Faktizitäten – die Auflösung jeglicher meßbaren Materialität und Aktivität in jener ›In-Silico-Materialität‹ sowie jeder Umsetzung in Machine-Readability.  Als neuer, teils patentierbarer Rohstoff für Geschäftsmodelle (»Big Data«, »Quantified Self«, »Affective Computing«, etc.) zielt dieser auf die Kompletterfassung und -simulation ganzer Populationen oder Konstituenten. Die Totalbeobachtung der Individuen durch Unternehmen aus Bereichen wie z.B. Social Media, Telekommunikation oder dem Versicherungswesen kommerzialisieren die Verfügbarkeiten in einer Weise, die ein beängstigendes Ausmaß an Bevormundungs-, Beratungs- oder Selbstoptimierungsstrategien mit sich führt. Diesen Szenarien stehen jedoch auch Ansätze gegenüber, die diese »totalen« Verfügbarkeiten zur Öffnung und Demokratisierung von Wissenszugängen nutzen. Aus diesem Komplex ergeben sich folgende Fragen:

Weichen Strategien des Data Mining, also einer Problematisierung und technischen Bearbeitung großer Datenbestände im Sinne ihrer Organisation, zunehmend Ansätzen, die für sich in Anspruch nehmen, unmittelbar und ohne Zeitverzug auf die Realität zuzugreifen? Welcher Datenlogik und -analytik folgt ein solches »Reality Mining«? Wie unterscheiden wir zwischen Statistiken, die den Index des Problematischen tragen, und Realität, wenn die Datengrundlage total wird, also kein Repräsentationsverhältnis mehr vorliegt?

Welche zeitlichen Phänomene »totaler« Verfügbarkeiten zeigen sich? Wie rekonstruieren Ansätze wie etwa Cliodynamics mit Hilfe mathematischer dynamischer System-Modellierung per CS Vergangenheit? Auf welche Weise fügen sich diese Vergangenheitsrekonstruktionen sowie die Zeitlichkeiten des possibilistisch Zukünftigen zusammen? Wie verzahnen sich Hardwarekonstruktion, -architektur und zeitliche Taktung und organisieren in ihrem Zusammenspiel die basale Operationsbedingung komplexer CS-Modelle? Welche Zeitschichten lagern sich ein in den Codes von CS-Software und bestimmen teils mit über deren Anwendungshorizont? Welche polykontexturalen algorithmischen Zeitlichkeitsformen bilden sich aus? Wird CS selbst zum Beobachtungsinstrument einer performativ gewordenen Zeit? Wie werden dabei die traditionellen Formate der Utopie und der Eschatologie radikalisiert?

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Die Leitbegriffe der Schnittfelder zur Theorieforschung und -formulierung (»Entscheidungen«, »Faktizitäten«, »Verfügbarkeiten«) formieren sich vor dem Hintergrund der These einer simulativen »Welterzeugung«, der Kritik der platonistischen Rekurrenzfigur von »Sein und Schein« sowie des dezidiert kultur- und medienwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses des Kollegs. Als Fragestellungen motivieren sie die Forschungen der zweiten Förderphase. Es geht also um nichts weniger, als die Wirkmächtigkeit der Simulation für gegenwärtige Kulturen auszuloten und kulturtheoretisch zu fassen.