Dr. Anne Dippel

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unserer Video-Serie MECS
Profiles das Fellow Profile und die Forschungsarbeit von Anne Dippel an.

Fellow Profile

Anne Dippel ist Anthropologin und Historikerin. Sie besuchte das Leibniz Kolleg in Tübingen, studierte Geschichte, Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie in London und Berlin. 2013 wurde sie mit einer Ethnographie über das Verhältnis von Sprache, Medien und Nationalität am Beispiel deutschsprachiger Schriftsteller der Zweiten Republik Österreich am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität promoviert. Zurzeit arbeitet sie dort als Visiting Researcher an einer Feldforschung über die Produktion von Kosmologie durch das Wechselspiel von Theorie und materieller Praxis in Experiment und Erfahrung aktueller Hoch-Energie-Physik.

 

FORSCHUNGSPROJEKT

Monte-Carlo am Lac Léman. Zeit-Räume in Erfahrung und Erkenntnis quantenphysikalischer Laboratorien

Meine aktuelle ethnographische Feldforschung zielt darauf, systematisch Arbeitspraxen und Denkstile innerhalb wissenschaftlicher Kollaborationen zu vergleichen, die sich um zwei Teilchendetektoren am Großen Teilchenbeschleuniger des Europäischen Zentrums für nukleare Forschung, dem CERN im Schweizer Meyrin, herum aufbauen: dem ATLAS (A Toroidal LHC Apparatus) und dem CMS (Compact Muon Solenoid). Durch ein komplexes System von Checks und Balances versucht die aus etwa 10.000 Physikern bestehende CERN-Collaboration mittels der konkurrierenden Teams von ATLAS und CMS experimentell abgesicherte Erkenntnis herzustellen. Dabei zielen sie darauf Fehler, die durch den technischen Apparat oder durch die falsche Wahl von Parametern in der Analyse der gesammelten Daten entstehen könnten, auszuschließen. Auf der Basis des 2012 mit großer Wahrscheinlichkeit experimentell nachgewiesenen Higgs-Teilchens studieren Physiker dort zur Zeit das so genannte „quantum vacuum field“, bzw. das skalare „backround field“, das ihnen innerhalb des Standardmodells der Teilchen-Physik dabei hilft zu erklären, warum Masse überhaupt in unserem Universum existiert.

Während meiner Teilnehmenden Beobachtung verfolge ich die Frage, wie Physiker eine verschränkte Verbindung mit überdimensionalen, unterirdischen Teilchendetektoren eingehen, um im Zusammenspiel von Mensch, Medien und Maschinen Wissen zu produzieren. Die Bedeutung von und die Beziehung zwischen Computer-Simulationen, die Erkenntnismodelle produzieren und Großdetektoren, die experimentell Ereignisse einer reproduzierten Natur festhalten, stellen sich für das Verständnis, „was“, um es mit Bronislaw Malinowski zu sagen, „in meinem Feld passiert“, als zentral heraus.

Experimentell gesammelte Daten tragen immer Unsicherheiten und Beschränkungen in sich, bedürfen bei Interpretation und Auswahl des Spürsinns und Zufalls, sind im Fall der Physik von der Berechnung der Standard-Abweichung begleitet. In der Quantenphysik ist die Unsicherheit durch den Welle-Teilchen-Dualismus noch einmal verdoppelt, denn es bleibt auch weiterhin unmöglich, die Position des Partikels und seinen Impuls zu bestimmen. Alle Daten sind mehrdeutig, und jede Berechnung ist nur eine Annäherung an objektive Gewissheiten mittels statistischer Werkzeuge. Aus diesem Grund werden zufallsbasierte Computer-Simulationen, so genannte Monte Carlos eingesetzt, um sich der Deutung der Ereignisse anzunähern. Wissenschaftler werden somit nicht bloß zu Produzenten, sondern zu „modest witnesses“ eines situierten Wissens über eine rekonstruierte, technische Natur, die im Rahmen eines gigantischen Experimentalsystems modelliert wird.

Die Forschung trägt zum Verständnis bei, wie Kosmologie innerhalb experimenteller Praxis und gelebter Epistemologie von Teilchenphysik entsteht, die an großen Beschleunigern stattfindet. Die Studie zielt darauf, Wissensproduktion im Rahmen einer menschengemachten Simulation von Natur im Hinblick auf die inhärenten Vorstellungen und Praxen von Raum- und Zeitlichkeit zu untersuchen und dabei das Verhältnis und die Nutzbarmachung von Materialität und Bedeutung zu analysieren. Im Zentrum steht daher die Analyse des Zusammenspiels von Menschen, Maschinen und Medien, die an der symbolischen Produktion von Technonatur einerseits und der realen Simulation von Natur durch Technik andererseits teilhaben. Das Ziel ist, zu beschreiben, wie Kosmologie hergestellt wird, wie Wissen über die Natur der Natur produziert und repräsentiert wird und dabei auf spezifische Vorstellungen über die „Natur“ des Wissens zurückgreift, das selbst wiederum von epistemischen Praxen geprägt ist.