Prof. Dr. Erich Hörl

Erich Hörl hat seit 2014 die Pro­fes­sur für Me­di­en­kul­tur an der Leu­pha­na Uni­ver­sität Lüne­burg inne. Er ist zu­dem Se­ni­or Re­se­ar­cher des Digital Cultures Research Lab (DCRL) der Leu­pha­na.

Erich Hörl war Professor für Medientechnik und Medienphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er leitete das Bochumer Kolloquium Medienwissenschaft (bkm). Zu seinen zentralen Forschungsfeldern gehören die Beschreibung der technologischen Bedingung, die Entwicklung einer allgemeinen Ökologie der Medien und Techniken, sowie die Geschichte und Theorie der Kybernetisierung. Seine kürzlich erschienen Publikationen umfassen: »A Thousand Ecologies: The Process of Cyberneticization and General Ecology«, in: Diedrich Diederichsen/Anselm Franke (ed.): “The Whole Earth. California and the Disappearance of the Outside” 2013 (Sternberg Press), (Hg.) “Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt" 2011 (Suhrkamp).


FORSCHUNGSPROJEKT

Gilbert Simondons spekulative Ökologie

(Allgemeine Ökologie der Medien und Techniken I)

In Zeiten von ubiquitous computing, sensorischen Umgebungen, multiskalaren Netzwerktechnologien, allgegenwärtigen lokativen und mobilen Medien ist eine Explosion umweltlicher Handlungs- und Wirkmächte festzustellen: Nach einem langen Wegdenken, um nicht zu sagen Vergessen von Umweltlichkeit wird heute nicht zuletzt durch Medientechnologien unsere originäre Umweltbedingung in einer nie dagewesenen Radikalität als solche offengelegt.

Dieses Phänomen hat in der Konsequenz u.a. zu einer radikalen Umwertung des Ökologiebegriffs geführt, der sich neu gefasst – weit über seine vertrauten semantischen Gehalte, lebenswissenschaftlichen Referenzbereiche, politischen Konnotationen und seine Amalgamierung mit einer romantisierten Natur hinaus – als zunehmend produktiv für die äußerst dringliche Rekonzeptualisierung unserer technologischen Bedingung erweist. Im Gleichschritt mit der anwachsenden Distribuierung der kybernetischen Lebensform wird zunehmend eine entsprechende Ökologisierung aller Existenzbereiche und Vermögen wahrgenommen.

Diese allgemeine Ökologisierung, wie ich diesen Prozess bezeichne, betrifft insbesondere auch die avanciertere medienkulturwissenschaftliche und philosophische Theoriebildung: Nach einer längeren Latenzzeit wird heute vieler Ortens vor allem der Übergang vom Paradigma des „Individual-Seins“ zum Paradigma des „Relational-Seins“ (Didier Debaise) offensiv vollzogen. Hier zeigen sich überaus vielversprechende Ansätze zu einer grundsätzlichen Ökologisierung des Denkens, die, so die Grundthese des Projekts, insgesamt den Kern unserer Epochenbewegung darstellt.

Die allgemein-ökologische Transformation, die sich vor unseren Augen vollendet, hat sich lange vorbereitet. Aber auch wenn die Entdeckung von Umweltlichkeit spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts voranschreiten mag, seither das Problem der Umwelt qua Vervielfältigung von Handlungs- und Wirkmächten durch die Technisierung einer lang dauernden Vergessenheit bzw. Trivialisierung entrisssen wird, so mutiert Umweltlichkeit als solche gleichwohl erst mit dem Eintritt in die neue „kybernetische Natur“ (Serge Moscovici) um 1950 zu einer echten, übergreifenden konzeptuellen Frage und zu einer Schlüsselkategorie des zeitgenössischen Denkens schlechthin.

Auch und vor allem Computersimulationen gehören bereits seit der kybernetischen Frühzeit mit zum Kerngeschehen der allgemein-ökologischen Wende: Simulationen sind neue experimentelle Verfahrensweisen, die die radikale Exposition von Umweltlichkeit als solcher und die Primarisierung von Relationalität implementieren und umgekehrt auch davon erzwungen werden, sie sind untrennbar mit der Vervielfältigung von Akteuren und agencies und mit Multirelationalität verbunden. Simulationen sind, mit anderen Worten, ein experimentell-rechnerischer Umgang mit einer grundsätzlich nichttrivialen Umweltlichkeit und so gesehen vielleicht sogar einer der zentralen Schauplätze der allgemein-ökologischen Transformation überhaupt.

Die Wissenschaften, ihre Experimentalkulturen, nicht zuletzt aber auch das Denken selbst, werden qua Simulation im starken Sinne environmentalisiert, d.h. auf nicht-triviale, komplexe Umweltlichkeit umgestellt. Durch Simulationen geschieht mindestens eine allgemeine Ökologisierung von Epistemologie, ja möglicherweise vollzieht sich hier sogar die Geburt einer Ontotechnologie.

Gilbert Simondons großangelegtes Projekt einer spekulativen Ökologie, wie man es nennen kann, spielt für die konzeptuelle Verallgemeinerung von Umweltlichkeit eine entscheidende Rolle. Es muss als der erste Versuch einer umfassenden Philosophie der kybernetischen Natur gelten, die auf der Höhe der technologischen Bedingung ist und als weitreichende theorie- und begriffspolitische Reaktion auf sie entziffert werden kann. Das Forschungsprojekt wird in einer ersten Phase Simondons spekulative Ökologie im weiteren Kontext der Epochenbewegung rekonstruieren und sie hinsichtlich möglicher Anschlüsse für eine allgemeine Ökologie der Simulation befragen.