Beteiligung von Frauen bei der Verteidigung der Ukraine sichtbar machen

Impuls von Tamara Martsenyuk

21.06.2023 Tamara Martsenyuk, Soziologin an der University of Kyiv-Mohyla Academy und derzeit Gastwissenschaftlerin an der Leuphana präsentierte in einem Vortrag zum Thema „Women‘s Participation in Defending Ukraine in Russia‘s War“ Befunde aus ihrer laufenden Forschung zu Geschlecht und Militär in der Ukraine.

Beteiligung von Frauen bei der Verteidigung der Ukraine sichtbar machen ©Lars Alberth
„Ukrainian women managed to challenge traditional gender roles as caretakers and victims of a conflict and reclaimed visibility, recognition, and respect as revolutionaries and volunteers“, so Tamara Martsenyuk.

Von der Scharfschützin Lyudmila Pavlichenko bis zu heutigen Soldatinnen im ukrainischen Militär: Anhand von Biographien sowjetischer Veteraninnen und eigenen aktuellen Studien kann Tamara Martsenyuk zeigen, dass die Frauen nicht allein auf den Status verletzlicher und verletzbarer Opfer reduziert werden können und stattdessen auch als handlungsmächtige Akteurinnen des Widerstands verstanden werden müssen. Diese doppelte Positionierung als verletzlich und widerständig zeigt sich in einer kontinuierlichen Beteiligung von ukrainischen Frauen im Militär seit dem Zweiten Weltkrieg und findet sich auch in der politischen Ikonografie wieder, die immer wieder das Motiv der bewaffneten Frau aufgreife. Weitere Belege finden sich in den Partizipationsraten von Frauen im Militär, in popkulturellen Inszenierungen (etwa im Tragen von Kleidungsstücken mit Leopardenmuster, die auf die Forderung nach Panzerlieferungen an die Ukraine anspielen) und in den Witzen, die über die russischen Invasoren gemacht werden: So finden sich Comics und Sticker mit der Darstellung von Hexen auf fliegenden Besen, die den ukrainischen Luftraum abschirmen und rufen: „Girls, let’s close the sky“.

Ein zentraler Befund der Studien zum „Unsichtbaren Bataillon“ ist für Tamara Martsenyuk die sehr spezifische Situation der Frauen im Militär. Viele Frauen, die militärische Operationen ausführen (z.B. als Scharfschützinnen), würden offiziell auf Positionen der Verwaltung, Beschaffung oder im medizinischen Dienst beschäftigt – deren militärische Leistung bleibt damit also unsichtbar. Zudem fehlt es an einer Infrastruktur, die auf die Bedürfnisse von Frauen zugeschnitten ist. So mangele es etwa an Uniformen und passender Schutzausrüstung, Schuhen und Hygieneartikeln. Das Militär unterschätze, stereotypisiere und ignoriere damit den Beitrag der Frauen zum militärischen Widerstand gegen Russland. Die Frauen selbst verstehen sich hingegen als kompetente Soldatinnen.

Die Situation der Frauen habe sich aber seit dem Euromaidan (2013/14) und der Besetzung des Donbas (2014) durch den zivilgesellschaftlichen Einsatz von Frauen, den Aktivismus von Veteraninnen und auch durch gesetzliche Änderungen deutlich verbessert. „Ukrainian women managed to challenge traditional gender roles as caretakers and victims of a conflict and reclaimed visibility, recognition, and respect as revolutionaries and volunteers“ so Tamara Martsenyuk.

Diese neue Sichtbarkeit wird auch durch repräsentative Bevölkerungsumfragen zur Gleichberechtigung im Militär, zur Bereitschaft des bewaffneten Widerstands gegen Russland und zur Neugestaltung des Militärs bestätigt, die alle auf eine stärkere Akzeptanz von Soldatinnen hinweisen.

„Selbst offene und umfassende Konflikte wie Kriege betreffen nicht alle auf dieselbe Weise. Die Frage danach, wessen Handeln unsichtbar und wessen Stimmen zum Schweigen gebracht wird, verläuft auch in Ausnahmesituationen entlang der bekannten Dimensionen sozialer Ungleichheit", sagt Prof. Dr. Lars Alberth, der zusammen mit Prof. Dr. Claudia Equit das Event organisierte. „Die von Prof. Martsenyuk herausgearbeitete emanzipative Leistung ukrainischer Frauen fordert dazu auf, die diffizile Realität militärischen Geschehens und deren Folgen für verschiedene soziale Gruppen zur Kenntnis zu nehmen."

Weitere Infos

Prof. Dr. Tamara Martsenyuk ist derzeit als Gastwissenschaftlerin am Institut für Sozialarbeit am und Sozialpädagogik (IFSP) an der Leuphana tätig. Sie wird seit dem letzten Sommer vom niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert.

Veröffentlichungen zu diesem Thema

Die Frage nach Sichtbarkeit und Stimme von marginalisierten Akteur*innen in konfliktbehafteten Lebenslagen ist ein zentrales Thema für die Sozialpädagogik in diversen Gesellschaften, etwa wenn es um die Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren in der Fremdplatzierung von Jugendlichen oder um die Versuche von Kindern geht, sich Gehör für die Gewalterfahrung in Familien zu verschaffen.