Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen am 25.11.2023

Interview mit Prof. Dr. Angelika Henschel

21.11.2023 Am 25. November 2023 wird weltweit der Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen abgehalten. Im Interview berichtet Angelika Henschel, Professorin für Sozialpädagogik, insbesondere Genderforschung, Jugendhilfe und Inklusion über Ihre aktuellen Arbeiten dazu.

Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Interview mit Prof. Dr. Angelika Henschel ©Leuphana/Eva-Kristin Rahe
„Je früher wir eingreifen“, erklärt Angelika Henschel, „desto eher haben wir die Möglichkeit die Gewaltweitergabe zu stoppen, denn Gewalt wird auch gelernt.“
Frau Prof. Dr. Henschel, was ist aktuell Ihr Forschungsschwerpunkt?
Mein Forschungsschwerpunkt liegt weiterhin in der Thematik Gewalt in Geschlechterverhältnissen, insbesondere in der Partnerschaftsgewalt mit dem Augenmerk auf die von Partnerschaftsgewalt ebenfalls immer mitbetroffenen Kinder und Jugendlichen, die genauso Opfer dieser Gewalt sind. 2019 habe ich hierzu die retrospektiv angelegte Studie „Frauenhauskinder und ihr Weg ins Leben“ im Budrich Verlag veröffentlicht, in der inzwischen Erwachsene von mir im Rahmen von qualitativer Forschung über ihre Erfahrungen als Kinder in Frauenhäusern und hinsichtlich der Gewalt in der Partnerschaft ihrer Eltern befragt wurden. Durch diese Studie ist es auch gelungen, die Thematik einer breiteren Fachöffentlichkeit nahe zu bringen und in der wissenschaftlichen Community, z. B. durch Gastvorträge und Gastprofessuren in Sydney, Melbourne und Perth für einen Austausch zwischen unseren Universitäten zu dieser Thematik zu sorgen.
Es sollte also beim Thema Gewalt gegen Frauen ein größerer Fokus auf die ebenfalls betroffenen Kinder und Jugendlichen gelegt werden?
Ja, Kinder und Jugendliche sind ebenfalls, wie ihre Mütter, Opfer und Geschädigte dieser Gewalt. So zeigt sich z. B., dass in Frauenhäusern mehr Kinder als Frauen vorübergehend Schutz, Unterstützung und Beratung suchen, da es vor allem von Partnerschaftsgewalt betroffene Mütter sind, die die Flucht in ein Frauenhaus auf sich nehmen und einen Aufbruch für sich und ihre Kinder in eine ungewisse und schwierige Zukunft wagen. Ein Aufwachsen in dieser Gewalt kann massive Entwicklungsrisiken für die Kinder und Jugendlichen bergen, die in diesen Familien leben, da sie den Auseinandersetzungen der Eltern in der Familie hilf- und schutzlos ausgesetzt sind und die unterschiedlichsten Ausprägungen und Erscheinungsformen von Partnerschaftsgewalt beobachten oder hören müssen sowie mitunter selbst in das Geschehen mit hineingezogen werden. Diese Zeugenschaft der Gewalt, die häufig von anderen Sozialisationsinstanzen, wie Kitas, Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen nicht als Gefahr für die Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen eingeschätzt wird, zumal sich die Kinder aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen nicht an andere Erwachsene wenden, um Hilfe zu erhalten, bedarf besonderer Aufmerksamkeit und fachlicher Expertise.
Es geht also bei Partnerschaftsgewalt um eine spezifische Ausdrucksform von struktureller Gewalt, die auf traditionellen Geschlechterverhältnissen basiert, also nicht nur um individuelle Problemlagen innerhalb von engen sozialen Beziehungen im privaten Raum, sondern auch um Kindeswohl- und Kinderschutzfragen, auf die unsere Gesellschaft reagieren muss, wenn wir die Thematik häusliche Gewalt fokussieren. In diesem Zusammenhang lässt sich eine weitere Problematik identifizieren, die vor allem gerichtliche Entscheidungen hinsichtlich der Sorge- und Umgangsrechtsregelungen betrifft, da häufig der Gewaltschutz gegenüber den Frauen in Sorgerechtsansprüchen unzureichend berücksichtigt wird. Unter anderem zu diesem Spannungsfeld richte ich am 7. Februar 2024 eine ganztägige Tagung aus, die den Abschluss des Forschungs- und Entwicklungsprojektes „Kinder(leben) in Familien mit Partnerschaftsgewalt“ bildet und für die es jetzt schon mehr als 120 Anmeldungen gibt. Es besteht also nach wie vor Bedarf an weiteren Forschungen zu diesem Themenkomplex. Darüber hinaus bedarf es der Weiterentwicklung und Umsetzung von Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, um die berufliche Praxis der Fachkräfte zu professionalisieren.
Wie genau sah das Projekt aus?
Bei dem zweijährigen Projekt „Kinder(leben) in Familien mit Partnerschaftsgewalt“ handelt es sich um eine Kooperation mit dem „Institut für Schule, Jugendhilfe und Familie e.V.“ (finanziert durch die Heidehof Stiftung), in dem daran gearbeitet wurde ein Fortbildungscurriculum für Fachkräfte in Frauenhäusern, Schulen, Kitas und anderen Jugendhilfeeinrichtungen zu entwickeln. Das in Zusammenarbeit mit Expertinnen aus unterschiedlichen Institutionen (nifbe, Frauenhauskoordinierungsstelle, Ostfriesische Landschaft, etc.) entwickelte Curriculum wurde dann im Rahmen von zwei Fortbildungen erprobt, evaluiert und modifiziert. Zudem wurde ein Seminar für die Lehramtsausbildung im Lehramt für Berufliche Schulen mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik für das Masterprogramm entwickelt, um die angehenden Lehrkräfte, die zukünftig Erzieher*innen ausbilden werden, für die Thematik zu sensibilisieren. Ziel war es, vor allem die Fach- und Lehrkräfte in den sekundären Sozialisationsinstanzen aus- bzw. fortzubilden, damit sie sich für die Thematik Partnerschaftsgewalt im familiären Kontext verantwortlich fühlen und als erste  Ansprechpartner*innen außerhalb der Familien für die von Partnerschaftsgewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen als Unterstützung zur Verfügung stehen, um im Sinne des Kindeswohls zu agieren. Die mit den von uns entwickelten Maßnahmen einhergehende Professionalisierung der Fachkräfte im Sinne der Zunahme von Handlungsfähigkeit im pädagogischen Alltag, so zeigen unsere Evaluationen, ermöglichen zudem, dass Kinderschutzkonzepte erweitert und ressourcenorientierte Zugänge zukünftig besser umgesetzt werden können.
Was hat sich seit Beginn Ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Partnerschaftsgewalt verändert?
Das Wichtigste ist sicherlich, dass in Folge der zweiten Welle der Frauenbewegung die Thematik Gewalt gegen Frauen ab den siebziger Jahren gemäß der Devise „das Private ist politisch“, aus der Privatsphäre zunehmend in die Öffentlichkeit getragen und damit auch enttabuisiert wurde, denn wir wissen aus Untersuchungen und aktuellen Statistiken, dass in Deutschland jede vierte Frau durch die Gewalt durch den eigenen (Ex)Partner betroffen ist und alle drei Tage ein Femizid erfolgt. Daher kommt den Frauenhäusern, die sich ab 1976 etablierten, eine große Bedeutung zu. Hier können Frauen mit ihren Kindern vorübergehend Schutz erhalten, sich in Sicherheit fühlen und die Unterstützung erhalten, die sie in dieser spezifischen Situation benötigen. Allerdings fehlen bis heute noch immer ca.14.000 Frauenhausplätze und die Ressourcen, auf die in der Arbeit zurückgegriffen werden kann, müssen nach wie vor als prekär bezeichnet werden. Hilfreich war und ist es, dass in Folge der politischen Kämpfe gesetzliche Veränderungen, wie die Einführung des Gewaltschutzgesetzes im Jahr 2002 und die Ratifizierung der Istanbul-Konvention durch die Bundesregierung (2018), erfolgten. Hinsichtlich der Umsetzung der Istanbul-Konvention bedarf es jedoch noch weiterer Anstrengungen von Seiten der Bundesregierung, auf Länder- und Kommunalebene. Deshalb wird durch die Tagung am 7.2.24 in unserem Haus auch die Verbesserung der Umsetzung der Konvention unter besonderer Berücksichtigung von Kinderschutzmaßnahmen thematisiert.
Was kann in der Praxis noch mehr getan werden, um Kindern und Frauen zu helfen?
Es müssen mehr Plätze in Frauenhäusern geschaffen werden. Der Kinderschutz sollte erweitert werden, so dass auch Partnerschaftsgewalt als Kinderwohlgefährdung angesehen wird, dafür braucht es die Aufklärung der Familiengerichte. Ebenso muss die Thematik mehr ins Blickfeld von Erzieher*innen und Lehrkräften gerückt werden, auch um präventiv wirken zu können und um die intergenerationelle Weitergabe der Gewalt zu unterbinden. Dies könnte das Kindeswohl und den Schutz für die Kinder befördern, dafür sorgen, dass ihre Rechte, also auch die Kinderrechte Umsetzung erfahren, denn wenn es gelingt, erziehende Personen für die Ursachen von Partnerschaftsgewalt, die sich auch aus traditionellen und asymmetrischen Geschlechterverhältnissen ableiten lassen, für die Gewaltformen und Gewaltdynamiken sowie für die damit verbundenen Folgen für die Mütter und die Kinder zu sensibilisieren, kann auch frühzeitiger bei Kindeswohlgefährdung interveniert werden. Je früher wir eingreifen, desto eher haben wir die Möglichkeit die Gewaltweitergabe zu stoppen, denn Gewalt wird auch gelernt.
Vielen Dank!

Angelika Henschel, die seit 2016 das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik und seit 2012 den berufsbegleitenden Studiengang Bachelor Soziale Arbeit an der Professional School leitet, wurde mehrfach für ihre wissenschaftliche Arbeit sowie ihr soziales Engagement ausgezeichnet – darunter mit dem Leuphana Lehrpreis, dem Leuphana Preis für Geschlechter- und Diversitätsforschung sowie dem Bundesverdienstkreuz. Als ausgewiesene Expertin für Gender-Fragen wird sie national und international nachgefragt und verbrachte u.a. 2021 ein Forschungssemester an der Australian Catholic University in Sydney, hielt Gastvorträge an der Monash University Melbourne sowie der Melbourne University und sie war im Februar und März diesen Jahres als Gastprofessorin an der Western Sydney University tätig. Ihre Monografie „Frauenhauskinder und ihr Weg ins Leben“ (2019) gilt mittlerweile als Standardwerk.