Studie: Kann die Energiesteuer in Deutschland zu einer Gelbwesten-Bewegung führen?

11.10.2022 Lüneburg. Die 2021 von der Bundesregierung auf den Verkehrssektor ausgedehnte CO2-Bepreisung zielt darauf ab, den Ausstoß dieses klimaschädlichen Gases zu senken. Für Autofahrer wirkt sie sich in Form steigender Kraftstoffpreise aus. Erinnert man sich an die Gelbwesten-Proteste in Frankreich, liegt die Frage nach den sozialen Folgen einer höheren CO2-Bepreisung nahe. Der VWL-Professor Dr. Mario Mechtel von der Leuphana Universität Lüneburg hat jetzt zusammen mit zwei Kolleg:innen vom Fraunhofer Institut für Angewandte Informationstechnik in einer Studie untersucht, welche Einkommensgruppen von einem CO2-Preis besonders betroffen sind. Dabei zeigte sich: Es gibt Möglichkeiten, die Treibhausgasemissionen im Straßenverkehr so zu besteuern, dass es zu keiner unverhältnismäßigen Belastung für Haushalte mit niedrigem Einkommen kommt.

Die Wissenschaftler:innen haben für ihre Studie ein neues, sogenanntes Mikrosimulationsmodell entwickelt. Damit lassen sich verschiedene Haushaltstypen unterscheiden und die Effekte der Besteuerung auf niedrige, mittlere und hohe Einkommen ermitteln. Mit Hilfe dieses Modells haben sie die aktuelle Besteuerung mit drei politischen Reformszenarien verglichen, um deren Auswirkungen auf die Verteilungseffekte von Kohlendioxidpreisen empirisch zu untersuchen. Sie wollten Erkenntnisse darüber gewinnen, wie sich die weitere Erhöhung des CO2-Preises insbesondere für die Bezieher niedrigerer Einkommen auswirkt.

Die aktuelle Energiesteuer bemisst sich für Autofahrer am Kraftstoffverbrauch und besteuert einen Liter Benzin höher als einen Liter Diesel. Wie die Studie zeigt, belastet dieses Modell untere Einkommensgruppen leicht überproportional. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sie die höhere Besteuerung von Benzin stärker trifft, denn benzingetriebene Fahrzeuge sind in dieser Gruppe weiter verbreitet. Die geringere Besteuerung von Diesel wirkt sich hingegen vor allem für höhere Einkommensgruppen positiv aus. Dort sind dieselbetriebene Fahrzeuge besonders häufig.

Eines der jetzt untersuchten Reformszenarien zielt - bei gleichbleibendem Steueraufkommen - auf eine Reform der Energiesteuer, die dann nicht mehr pro Liter Kraftstoff berechnet würde, sondern sich an der Menge des ausgestoßenen CO2 orientiert - unabhängig davon, ob es durch die Verbrennung von Benzin oder Diesel entsteht. Da Dieselkraftstoff bei der Verbrennung eine größere Menge des klimaschädlichen Gases freisetzt, würde dieser Ansatz dazu führen, dass die bisherige Besserstellung des Dieselkraftstoffs entfiele und die Belastung sich besser verteilte. Die Haushalte mit den unteren 60 Prozent der Einkommen würden im Durchschnitt durch diese Reform entlastet.

„Wir müssen bei der Reduzierung des Ausstoßes klimaschädlicher Gase dringend vorankommen. Dafür bietet der Verkehrssektor einen wichtigen Hebel. Uns hat interessiert, inwieweit eine stärkere Belastung sozial gerecht erfolgen kann. Unsere Untersuchungsergebnisse zeigen, dass auch eine recht starke Erhöhung des CO2-Preises nicht zu einer überproportionalen Belastung der Bezieher niedrigerer Einkommen führen müsste“, fasst Prof. Mechtel das Ergebnis der Studie zusammen. Er weist allerdings darauf hin, dass die Ergebnisse auf Durchschnittswerten basieren, in Einzelfällen also auch durchaus namhafte Mehrbelastungen auftreten könnten. Eine Entlastung der betroffenen Haushalte müsste dann auf anderem Wege erfolgen.

Gegenwärtig arbeitet das Forscher:innenteam an Nachfolgestudien, die sich beispielsweise mit Fragen einer zunehmenden Elektromobilität beschäftigen. Sie wollen herausfinden, welche Haushalte mit höherer Wahrscheinlichkeit elektrisch angetriebene Fahrzeuge kaufen und welche Verteilungswirkungen sich daraus ergeben, dass der Individualverkehr vermehrt auf nicht-fossile Antriebe umgestellt werden soll.

Hintergrund:
Für ihre Untersuchung haben die Wissenschaftler:innen einen für Deutschland einzigartigen Datensatz verwendet. Er umfasst nicht nur die Daten von über 150.000 Haushalten mit mehr als 216.000 Autos, sondern berücksichtigt auch fahrzeugspezifische Informationen über die Kraftstoffeffizienz, die jährliche Fahrleistung und die Unterscheidung zwischen verschiedenen Kraftstoffarten.

Die Studie ist erschienen im Journal Energy Economics, Vol. 114 (2022)
doi.org/10.1016/j.eneco.2022.106290