Verabschiedung: Prof. Dr. Hans-Rüdiger Pfister – Besser Kopf als Bauch

07.11.2022 „Emotionen sind nicht per se richtig“, sagt der Professor im Ruhestand für psychologische Entscheidungsforschung und Methoden. In Interview blickt er auf seine wissenschaftliche Arbeit zurück.

Prof. Dr. Hans-Rüdiger Pfister ©Leuphana
"Entscheiden ist anstrengend. Der Mensch ist kognitiv faul."

Herr Professor Pfister, wie trifft man bessere Entscheidungen: intuitiv oder reflektiert?

Hans-Rüdiger Pfister: Das Bauchgefühl kostet keine Anstrengung. Es scheint die Entscheidung vorzugeben, wenn man nur richtig in sich hineinhört. Aber das ist trügerisch. Nur, wenn man sehr viel Erfahrung auf einem Gebiet hat, sollte man auf seine Intuition hören. Ein erfahrener Arzt etwa, der seit 20 Jahren im Beruf steht, kann sehr schnell eine meist korrekte diagnostische Entscheidung in seinem Fachgebiet treffen. Ansonsten führt uns die Intuition regelmäßig in die Irre.
Warum täuschen uns ausgerechnet unsere eigenen Gefühle?
Emotionen sind nicht per se richtig. Emotionen sind die Motoren unserer Entscheidungen und Handlungen, aber oft basieren sie auf einer schiefen oder nicht adäquaten Wahrnehmung der Welt. Allein, dass wir beispielsweise vor etwas Angst haben, verrät uns nicht zuverlässig, ob die Entscheidung für oder gegen etwas richtig ist. Angst ist ein starkes Gefühl, aber es gilt zu prüfen, ob sie in dieser Situation berechtigt ist.
Das hört sich nach kognitiver Arbeit an.
In unserer Kultur ist die Entscheidungsfreiheit ein hohes Gut und wir haben heute bei sehr vielen Dingen die Wahl – manchmal mehr als uns lieb ist. In der Forschung sprechen wir vom „Decision overload“. Das fängt schon bei einfachen Dingen wie einem Restaurantbesuch an: Zunächst muss man ein Gericht von der Karte wählen. Dann kommt der Kellner und fragt uns, mit welchem Dressing wir den Salat gern serviert haben möchten. Soll das Schnitzel mit Pommes frites oder Bratkartoffeln sein? Die Idee, dass wir uns gern entscheiden, widerspricht oft der eigenen Erfahrung. Schwierige Abwägungen werden sogar oft vermieden. Entscheiden ist anstrengend. Der Mensch ist kognitiv faul.
Also muss man nur den Kopf einschalten, um alles richtig zu machen?
Wenn das so einfach wäre – auch ein eingeschalteter Kopf macht Fehler, aber nur damit können inadäquate Intuitionen korrigiert werden. In den vergangenen Jahren habe ich mich vor allen Dingen mit emotionalen Motiven von Entscheidungen beschäftigt. Moralische und emotionale Überzeugungen beeinflussen Entscheidungen massiv. Die Entscheidungsforschung, nicht nur die psychologische, sondern auch die ökonomische und die soziologische, war lange Jahre sehr vernunftorientiert. Sie ging davon aus, dass Menschen einen sehr rationalen Blick auf die Welt haben, die Konsequenzen ihre Entscheidung abwägen und dann eine wohl kalkulierte Wahl treffen. Aber die Rolle der Emotionen ist bedeutender als gedacht. Man kann sich viele Optionen überlegen, aber so lange keine Emotion damit verbunden ist, bleibt alles abstrakt und irrelevant. Erst starke Emotionen führen zu Handlungen.
Bleiben wir deshalb selbst trotz Warnungen oft untätig?
Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen von der Universität Bergen habe ich zu Entscheidungen für ein umweltfreundliches Verhalten geforscht. Beispielsweise fliegen Menschen, obwohl sie wissen, wie schädlich es ist. Warum ist das so? Der Klimawandel ist für viele abstrakt: Viele dramatische Ereignisse liegen noch in der Zukunft und die wesentlichen Auswirkungen spüren wir in der westlichen Welt noch nicht so stark wie woanders. Damit fehlt für viele der emotionale Impuls zu Handeln. Erst wenn ein Umweltproblem konkret wird, werden Emotionen geweckt, beispielsweise wenn einem namentlichen Unternehmen an einem Umweltskandal direkt Schuld zugeschrieben werden kann. 
Manchmal werden Zuschreibungen aber auch irrational. Ein gutes Beispiel sind die Querdenker während der Corona-Pandemie. Die Schuld für die Maßnahmen wurden bestimmten, einzelnen Personen zugeschrieben, wie „Frau Merkel und die Gesundheitsdiktatur“. In Verschwörungstheorien sind immer ganz bestimmte Personen die Schuldigen. Genau dadurch entstehen starke moralische Emotionen, wie Ärger und Wut auf diese Personen, und das Nachdenken setzt aus.
Als Entscheidungsforscher haben Sie auch das berühmte Experiment von Libet repliziert. Haben wir einen freien Willen oder nicht?
Die Replikation hat eine Doktorandin von mir, Frau Melcher, im Rahmen ihrer sehr umfassenden Dissertation durchgeführt. Libet hat gezeigt, dass unser Gehirn mit der Vorbereitung einer einfachen Handbewegung bereits begonnen hat, bevor wir uns bewusst dafür entschieden haben. Die Ergebnisse des Experiments sind oft verallgemeinert worden: Der freie Wille sei nur eine Illusion. Aber die Schlussfolgerung ist auf Basis der Daten sicher voreilig. Denn insbesondere größere oder komplexe Entscheidungen sind ein längerer Prozess. Aus diesem Ablauf, den einen Moment herauszufinden, an dem ich mich entschieden habe, ist nicht möglich. Insgesamt ist das Problem des freien Willens in der Entscheidungspsychologie aber nicht geklärt. Wir gehen davon aus, dass Menschen frei entscheiden können, aber immer im Rahmen bestimmter Bedingungen. Unter Kenntnis dieser Bedingungen kann man die durchschnittlichen Entscheidungen vieler Personen recht gut vorhersagen, wie etwa in der Marktforschung. Andererseits: Gäbe es keinen freien Willen, könnten wir irgendwann alles perfekt voraussagen. Aber davon sind wir in der Entscheidungspsychologie weit entfernt.
Vielen Dank für das Gespräch!
 
       

Hans-Rüdiger Pfister studierte in Berlin Psychologie und wurde dort zum Dr. phil. promoviert. Nach der Habilitation (venia legendi für Psychologie) an der TU Berlin, wechselte er 1997 ans Forschungszentrum Informationstechnologie (GMD) in Darmstadt und leitete dort das CSCL Kompetenzzentrum. 2001 wurde er Senior Researcher am Institut für Wissensmedien IWM in Tübingen. Im gleichen Jahr folgte er dem Ruf als Professor für Wirtschaftspsychologie, zunächst an die Fachhochschule Nordostniedersachsen, dann an die Universität Lüneburg. 2006 bis 2009 war er Adjunkt-Professor an der Universität Bergen/ Norwegen. Seit 2009 ist Hans-Rüdiger Pfister Universitätsprofessor für Psychologische Entscheidungsforschung und Methoden an der Leuphana Universität Lüneburg.