„Kunst ist eine Krisen-Expertin“ Zu Kunst und Corona

19.01.2021 Gibt es die Kunst noch? Galerien und Kunsthallen sind seit Monaten zu. Plakate zu Ausstellungseröffnungen wurden am Anfang der Pandemie noch optimistisch mit „Verschoben! Bald Neuer Termin!“-Bannern überklebt, ab Sommer 2020 dann nicht mehr. Dabei wäre es jetzt besonders interessant zu sehen, welche Kunstwerke die Krise hervorbringt. Was tun? Pierangelo Maset, Professor für Kunst und ihre Vermittlung stellt im Interview eine Diagnose zur Kunst in pandemischen Zeiten.

Pierangelo Maset, Copyright: BM ©BM
Pierangelo Maset, Professor für Kunst und ihre Vermittlung am IKMV
Künstler*innen gehören zu den Berufsgruppen, welche die Pandemie finanziell am härtesten trifft. Es gibt keine Aufträge, keine Wettbewerbe und erst recht keine staatliche Unterstützung. War’s das jetzt mit der Kunst in Deutschland?
Die Lage für die meisten Künstler*innen ist sehr dramatisch. Aus meinem Freundeskreis höre ich erschreckende Meldungen, wie z.B. monatelange Vorbereitungen auf Ausstellungen, die dann nicht stattfinden können und auch ausgebliebene oder verspätete Zuschüsse. Ich sehe einen deutlichen Mangel an politischer Vorstellungskraft, wenn z.B Supermärkte geöffnet haben, Ausstellungsorte, Galerien und Museen aber schließen mussten. Kunst und Kultur sind auch lebensnotwendig! Deshalb geht die Kunst weiter, egal wo, und egal unter welchen Bedingungen.
Was können Künstler*innen jetzt tun, um zu überleben und nicht gänzlich unterzugehen?
Künstler*innen haben meistens einige Talente und Fähigkeiten, in der gegenwärtigen Situation ist es aber sehr schwierig, kurzfristig in andere Bereiche auszuweichen. Viele haben ihre Aktivitäten im Internet massiv verstärkt, ich bekomme fast täglich Mails, die auf webbasierte Ausstellungen oder andere künstlerische Events hinweisen.
Kunst-der-Katastrophe entsteht häufig erst nachdem die Katastrophe schon eingetreten ist. Werden die Gemälde, Plastiken, Performances, die sich mit der Pandemie auseinandersetzen, erst nach der Pandemie geschaffen werden?
Die Beschäftigung mit der Pandemie findet in der zeitgenössischen Kunst längst statt, in vielfältiger Weise und in allen Disziplinen. Manches ist vielleicht zu plakativ, wie z.B. Suzanne Brennan Firstenbergs Projekt „In America“, einem „wachsenden“ Mahnmal, bei dem pro Corona-Tote eine kleine Fahne aufgestellt wird. Vielleicht kommen die überzeugendsten Arbeiten erst noch, in dem viel zitierten „Nach der Pandemie“.
Könnte man sagen Katastrophen sind harte Schnitte im kulturellen und menschlichen Dasein?
Das sehe ich nicht so. Katastrophen gehören zur planetarischen Conditio unserer Existenz. Sie erinnern uns daran, dass wir vom Wetter, vom Vulkanismus und vielen anderen Dingen abhängig sind, die die Prosa unserer Parteiprogramme ignorieren muss. In der Regel treffen sie uns persönlich - zum Glück! - nicht ununterbrochen.
Was wäre eine angemessene Art auf die Krise künstlerisch zu reagieren?
Die intensive Beobachtung dessen, wie Formen und Gestalten sich wandeln, z.B. wie die Innenstädte jetzt aussehen und wie menschliche Figuren sich nun verhalten und verändern. Das sollte in einer möglichst autonomen Perspektive erfolgen, so könnte sich z.B. die Hoffnung einer raschen Erlösung von der Krise durch die Impfung der Massen als trügerisch herausstellen.
Aber diese Hoffnung ist ja auch nachvollziehbar?
Klar, sie ist allzu verständlich, gerade insofern als sie eine Hoffnung auf Gesundheit ist. Auch im Hinblick auf künstlerische Entwicklungen sollte unbedingt das eigene Immunsystem – physisch und mental - gestärkt werden, wofür auch die Beschäftigung mit Kunst – sei sie nun produktiv oder rezeptiv - einen Faktor darstellt.
Bitte nennen Sie ein Beispiel.
Joseph Beuys, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, hat seine Kunst  in diesem Zusammenhang konzipiert, seine „Soziale Plastik“ beinhaltet wesentlich auch Momente der Heilung, wie man z.B. an seiner Aufforstung der Stadt Kassel mit 7000 Eichen sehen kann, einer Stadt, die im 2. Weltkrieg in verheerender Weise zerstört wurde und nun wieder durch dieses Projekt deutlich mehr städtisches Grün hat.
Wird die Pandemie in der Kunst eher Innovationen begünstigen (vielleicht sogar auslösen), etwa ganz neue Bildsprachen, oder wird sie die Entwicklung eher zurückwerfen (weil die Menschen sich momentan nach Orientierung und Stabilität sehnen), etwa durch eine Rückkehr des Figurativen?
Das Figurative ist ja seit Längerem wieder in der Kunst gegenwärtig, aber man muss nicht unbedingt – wie Banksy das getan hat – das „Mädchen mit dem Perlenohrring“ maskiert darstellen. Ich denke nicht, dass die Kunst durch die Pandemie entscheidend zurückgeworfen wird. Im Gegenteil, es gibt nahezu ein Bündel von Krisen, zu deren Lösung die Kunst beitragen kann: Kriege, Überbevölkerung, Klimawandel etc.
Inwiefern?
Nun, vor wenigen Tagen erhielt ich etwa einen Band der Bauhaus-Universität in Weimar, in dem es um die „Gestaltung der Gegenwart“ geht. Darin finden sich einige innovative Ideen, zum Beispiel zur Pulverisierung von Nahrungsmitteln, die dann in Reagenzgläsern auch als Zahlungsmittel dienen könnten. Und der Gedanke einer Post-Wachstumsgesellschaft wird dort aus künstlerischer Perspektive weitergeführt. Um solche Themen sollte es auf jeden Fall während der Pandemie gehen.
Sehen Sie in der Kunstgeschichte historische Parallelen zur jetzigen Situation?
Ja, sicher. Als Mitte des 14. Jahrhundert sich in Europa schlimme Pestausbrüche ereigneten, bewegte sich die Kunst in Richtung neuer Höhen, Stichwort Renaissance. Hieronymus Boschs dunkle Visionen und etwas später Albrecht Dürers „Apokalyptische Reiter“ sind auch unter den fürchterlichen Wirkungen der Pandemie entstanden, die ja bis ins 19. Jahrhundert hinein wütete, siehe z.B. Arnold Böcklins Werk „Die Pest". Da gibt es zahllose Beispiele, die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg ereignete sich auch zu einer Blütezeit der Kunst, die eben häufig unter schwierigsten Umständen gedeiht. Kunst ist die reinste Krisen-Expertin.
Welche Rolle spielt Kunstvermittlung momentan?
Ich denke, die Kunstvermittlung hat sich als ein Ansatz, der sich nicht nur als Dienstleistung für die Kunst versteht, klar etabliert, und das auch international. Dieses neuere Paradigma wurde wesentlich von unserer Einheit am IKMV mit entwickelt. Kunstvermittlung richtet sich nicht nur an Kinder und Jugendliche, sondern an alle Menschen und sonstigen Wesen – durchaus im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs. Das ist eine ziemlich relevante Rolle.
Vielen Dank!

Gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Rahel Puffert von der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig wurde Prof. Dr. Pierangelo Maset im Januar 2021 vom Fachverband „Bund Deutscher Kunsterzieher“ als Sprecher der Landesfachgruppe Kunstpädagogik Niedersachsen gewählt. Diese Doppelspitze macht es sich zur Aufgabe, die Bedeutung des Faches Kunst - insbesondere in Zeiten der Corona-Krise - gegenüber Politik, Medien und Bildungsinstitutionen zu verdeutlichen und für die Notwendigkeit ästhetisch-kultureller Bildung einzutreten.