„Eine komplexe Konfliktlage“ - Michael Koß zur Bundestagswahl 2021

13.09.2021 Nur noch wenige Tage vom Wahltermin entfernt, bleibt der Ausgang der Bundestagswahl weiterhin völlig unklar. Der öffentliche Diskurs um die Parteien, Programme und möglichen Bündnisse ist von einer gewissen Hilflosigkeit geprägt. Michael Koß, Professor für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland und der EU, leistet im Interview Orientierungshilfe.

Michael Koß, Professor für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland und der EU ©Leuphana/Brinkhoff/Mögenburg
Michael Koß, Professor für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland und der EU am Institut für Politikwissenschaft
Es sieht momentan danach aus, dass keine Partei aus dieser Wahl als klare Siegerin herausgehen wird, nicht wahr? Warum eigentlich? Und was bedeutet das für das Regieren in den nächsten vier Jahren?
Nun, anders als bis zur Wahl 2013 gibt es heute zwei potenziell wahlentscheidende Konflikte, die quer zueinander liegen. Zum einen das klassische Thema der Umverteilung, bei dem Union und FDP auf der einen und SPD und Linke auf der anderen Seite miteinander konkurrieren. Im Zeitverlauf immer wichtiger ist aber ein zweiter Großkonflikt geworden, bei dem es vor allem um transnationale Themen wie den Klimawandel, die EU und die Migration geht. Hier konkurrieren vor allem AfD und Grüne. Von eigenen Mehrheiten kann angesichts dieser neuen Unübersichtlichkeit keine Partei träumen. Deshalb wird aller Voraussicht nach erstmals keine Koalition aus zwei Parteien eine Mehrheit erringen. Sollte sich dies bewahrheiten, plädiere ich für eine Minderheitsregierung.
Könnte man sagen, dass ältere Mitmenschen diese Wahl entscheiden werden - weil sie in der jetzigen Bevölkerungsaufteilung die Mehrheit bilden?
Formal betrachtet mag das stimmen, aber aus dieser Perspektive werden auch die Rechtshänder die Wahl entscheiden. Genau wie die Linkshänder laufen die Jüngeren kaum Gefahr, übervorteilt zu werden. Die Fridays for Future-Demonstrationen sind vielleicht das sichtbarste Beispiel dafür, wie Jüngere ihren fehlenden numerischen Einfluss kompensieren.
Dieses Jahr stehen so viele Parteien zur Auswahl wie noch nie. Warum wurden seit der letzten Wahl so viele neue Parteien gegründet? Und sind sie alle chancenlos?
Die vielen neuen Parteien hängen mit der komplexeren Konfliktstruktur zusammen, die ich oben angesprochen habe. Ähnlich wie der SPD mit der Linkspartei erwachsen aktuell auch den Grünen Widersacher, die ihrem etablierten Pendant vorwerfen, die reine Lehre für Machtoptionen geopfert zu haben. Und ja, außerhalb ihrer zumeist innerstädtischen Hochburgen sind diese Herausforderer chancenlos. Aber sie kosten die Etablierten wichtige Stimmen.
Werden die Parteien, die den Querdenker*innen nahe stehen von der Pandemie profitieren - ist ein Rechtsruck zu erwarten?
Ich wüsste nicht zu sagen, welche Parteien (im Plural) den Querdenker*innen nahe stehen. Die AfD jedenfalls scheint zu lose Verbindungen zu ihnen zu haben, um maßgeblich profitieren zu können. Den Rechtsruck an der Wahlurne haben wir bereits nach 2015 erlebt, aktuell vollzieht er sich vor allem innerhalb der AfD, die sich ungebremst dem rechten Rand annähert. Es wird spannend sein zu sehen, ob dies die AfD Stimmen kostet.
Werden die Grünen von den Erstwähler*innen profitieren, die regelmäßig auf FFF-Demos waren und dieses Jahr erstmalig wählen?
Ja. Die FFF-Bewegung ist eine Folge des überdurchschnittlichen Zuspruchs von Erstwählenden für die Grünen, und ich gehe davon aus, dass dieser Trend anhält – Klimalisten hin, Klimalisten her.
Würde die SPD mit den Linken koalieren? Und ist deswegen ein Linksruck zu erwarten?
Der Antikommunismus ist vielleicht der letzte politische Reflex, der in Deutschland ohne Beteiligung des Großhirns ausgelöst werden kann. Allein deshalb halte ich es eher für unwahrscheinlich, dass die SPD sich formal an die Linkspartei bindet. Aber als Drohkulisse, um der – freundlich formuliert – regierungsfreudigen FDP inhaltliche Zugeständnisse abzutrotzen, eignet sich eine mögliche Koalition mit der Linkspartei aus SPD-Sicht einfach zu gut. Dies dürfte der eigentliche Grund sein, warum Olaf Scholz diese Option bislang nicht ausschließt.
Vielen Dank!

Weitere Infos

Nach Stationen in Oxford, Paris (Sciences Po) und Harvard sowie Vertretungsprofessuren an der Ludwig-Maximilians-Universität in München sowie der Technischen Universität Dresden ist Michael Koß seit 2019 Professor am Institut für Politikwissenschaft der Leuphana. Als Experte für politische Systeme wird er häufig von Medien angefragt (zuletzt unter anderem mehrfach in der ZEIT und Deutschlandfunk). Im März 2021 erschien seine Monographie „Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen“.