„Ein maßgeblicher Akteur bei der Bewältigung unserer Gegenwartskrisen“

17.12.2021 Mit Beginn des Sommersemesters 2022 gründet die Leuphana Universität Lüneburg die neue Fakultät Staatswissenschaften. Durch das Zusammenwirken der drei beteiligten Fächer Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre will die neue Fakultät als „Leuphana School of Public Affairs" mit derzeit 26 Professuren ein in Deutschland neuartiges Profil zu Fragen öffentlicher Angelegenheiten schaffen. Im Interview schildern Prof. Dr. Mario Mechtel, Prof. Dr. Michael Koß und Prof. Dr. Jörg Philipp Terhechte, drei der insgesamt sechs Mitglieder des Gründungsteams, die Hintergründe der Gründung.

Wie kam es zur Gründung der neuen Fakultät?

Terhechte: Die neue Fakultät verkörpert letztlich den Schlussstein für eine konsequente Entwicklung der Disziplinen Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Leuphana. Wir haben über viele Jahre hinweg Kooperationsstrukturen aufgebaut und erste Projekte in Studium und Lehre entwickelt. Insoweit lag es nahe, nun eine Fakultät zu gründen, zumal wir jetzt durch eine Reihe anstehender Neuberufungen unser wissenschaftliches Profil schärfen können. 

Koß: Wir müssen auch festhalten: Der Staat ist zurück. Selbst Liberale halten ihn heute nicht mehr für entbehrlich, sondern im Gegenteil den maßgeblichen Akteur bei der Bewältigung unserer Gegenwartskrisen. Dem tragen wir mit der neuen Fakultät Rechnung.

Mechtel: Und seit einigen Jahren gibt es ein gemeinsames interdisziplinäres Masterprogramm, das verdeutlicht, dass es zahlreiche Schnittstellen zwischen den drei Fächern gibt. Diese möchten wir nun auch in der Forschung nach innen und außen noch deutlicher machen.

Was macht die neue Fakultät aus  Ihrer Perspektive besonders?

Koß: Wir wissen seit der Pionierarbeit von Max Weber, dass die Moderne durch eine fortgesetzte Verregelung und Bürokratisierung gekennzeichnet ist. Bis vor kurzem haben viele sich darüber hinweggetäuscht, wer diese Regeln eigentlich setzt und vor allem: ihre Einhaltung überwacht. Wir nehmen nun den Staat wieder in den Blick, denn natürlich ist er diese Instanz. Schon deshalb macht es Sinn, sich mit den Staatswissenschaften zu beschäftigen.

Terhechte: An der Leuphana haben wir in den letzten Jahren immer wieder darauf geachtet, dass unsere Forschungsschwerpunkte und Strukturen Hand in Hand gehen. Die Zivilgesellschaft, die für uns eine große Rolle spielt, ist aber nur in übergeordneten Strukturen denkbar. Insoweit ist die Auseinandersetzung mit dem Thema „Staatlichkeit“ aus einer interdisziplinären Perspektive ein wichtiger nächster Schritt.

Mechtel: Die Politikwissenschaft, die Rechtswissenschaft und die Volkswirtschaftslehre bearbeiten Fragestellungen aus eng verwandten Themenbereichen. Diese Fragestellungen rund um das Thema „Staat“ lassen sich aber in den meisten Fällen gar nicht isoliert nur durch die Brille einer Fachdisziplin betrachten. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: wenn ich als Ökonom die Wirkung eines vor einiger Zeit eingeführten Gesetzes evaluieren möchte, hilft es mir ungemein, mich mit rechtswissenschaftlichen Kolleg*innen auszutauschen, um die institutionellen Regelungen vollständig zu verstehen. Genauso hilft mir der Kontakt zu den Kolleg*innen aus der Politikwissenschaft, wenn ich dann verstehen möchte, welche politischen Konstellationen dazu geführt haben, dass ein nach den Evaluationsergebnissen eigentlich wirksames Gesetz wieder abgeschafft wurde. Sowohl in der Forschung als auch in der Lehre haben wir schon in der Vergangenheit diese Komplementaritäten gesehen und gehen durch die Gründung der neuen Fakultät diesen gemeinsamen Weg nun konsequent weiter.

Welche Forschungsschwerpunkte wird die Fakultät haben?

Koß: Aus politikwissenschaftlicher Perspektive geht es in erster Linie um die Frage der Demokratie. Wie gewährleisten wir, dass der Staat neuen Herausforderungen begegnet, ohne seinen demokratischen Charakter preiszugeben? Am Zentrum für Demokratieforschung der Leuphana beschäftigen wir uns deshalb mit den normativen, kulturellen und institutionellen Grundlagen der Demokratie auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene.

Mechtel: Die Lüneburger Volkswirtschaftslehre hat eine empirische Ausrichtung. Uns geht es darum, Kausalzusammenhänge in der realen Welt zu identifizieren. Ein wesentlicher Bereich unserer Forschung bezieht sich auf die Evaluation von Politikmaßnahmen, aber auch der Entscheidungen (inter)nationaler Institutionen sowie von Unternehmen. Gerade im Bereich der Politikevaluation, der in Zeiten von Fake News und gefühlten Wahrheiten eine immer wichtigere Rolle zukommt, sehen wir auch besondere Anknüpfungspunkte zu den anderen beiden Fächern, wie ich es eben bereits anhand des Beispiels verdeutlicht habe. Das Wissen um die Anreize politischer Entscheidungsträger sowie die rechtliche Ausgestaltung von Institutionen und Maßnahmen ist für eine saubere empirische Evaluation unerlässlich.

Terhechte: In der Rechtswissenschaft geht es uns insbesondere um die Europäisierung und Internationalisierung der Rechtsordnung und der Frage, wie das Recht in einem Zeitalter der gesellschaftlichen Transformation zu verstehen ist, welche Rolle es spielt. Zudem sind wir sehr interdisziplinär aufgestellt. Und wenn man sich diese Schwerpunkte der beteiligten Disziplinen in der neuen Fakultät genauer anschaut, so wird das Potential für eine enge Zusammenarbeit sichtbar. Es geht um grundlegende Fragen: Wie organisieren wir unsere Gesellschaft und den Staat in der Zukunft? Welche politischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sind zu beachten? Welche Rolle spielen die EU und internationale Organisationen für ein modernes Verständnis von Staatlichkeit? Es liegt auf der Hand, dass sich hier eine Reihe von spannenden Forschungsfragen quasi automatisch ergibt.

Welche Forschungssynergien wollen Sie nutzen?

Koß: Wir haben in der neuen Fakultät die Möglichkeit, insgesamt 11 Professuren neu zu besetzen, drei davon im Bereich der Politikwissenschaft. Zwei dieser Professuren wollen wir gezielt nutzen, um die Integration der Fächer voranzubringen. Zum einen ist das eine Professur für Politikfeldanalyse, bei der die Rechtspolitik eine wichtige Rolle spielen soll und zum anderen eine Juniorprofessur für Politische Ökonomie.

Mechtel: Wir möchten die jeweiligen Stärken der drei beteiligten Fächer weiter ausbauen und auf der Basis starker Disziplinen den interdisziplinären Ansatz weiter vertiefen. Der eben genannte Bereich der „evidence-based policy“ bietet aus Sicht der VWL spannende Anknüpfungspunkte zwischen den Fächern. Darüber hinaus etablieren wir derzeit ein interdisziplinäres Forschungskolloquium, in dem wir uns von den Beiträgen der anderen Fächer inspirieren lassen können. Die ersten Gespräche im Vorfeld der Fakultätsgründung haben bereits manche Überraschung mit Blick auf ähnliche Forschungsinteressen zutage gefördert. Auch die Besetzung einer neuen Juniorprofessur für „Law and Economics“ ist hier ein wichtiger Mosaikstein.

Terhechte: Es geht letztlich darum, den Begriff der Interdisziplinarität nicht nur monstranzhaft vor uns herzutragen, sondern die Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen in der täglichen Praxis zu realisieren. Anknüpfungspunkte sind gemeinsame Studienprogramme und wissenschaftliche Veranstaltungen, aber auch wichtige gemeinsame Forschungsprojekte.

Wie wird sie international vernetzt und sichtbar sein?

Terhechte: Die neue Fakultät verfügt über zahlreiche internationale Kooperationen, etwa mit Hochschulen in Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Mit der University of Glasgow und der University of the West Indies richten wir ein gemeinsames Master-Programm aus. Hinzu kommt ein neuer Erasmus-Mundus-Master mit Partnerhochschulen aus ganz Europa. Uns ist es wichtig, dass unsere Studierenden immer auch die Möglichkeit haben, im Ausland akademische Erfahrungen zu sammeln. Hinzu kommt, dass unsere Kolleginnen und Kollegen viele Auslandkontakte haben, die sie natürlich auch für die neue Fakultät fruchtbar machen wollen.

Koß: Die Lüneburger Politikwissenschaft hat zunächst ein gemeinsames Doppelbachelorprogramm mit der Université Paris-Est Créteil. In der Forschung kooperieren wir alle eng mit Partnern in Europa, den USA – und eigentlich der ganzen Welt. Mein Kollege Chris Welzel ist beispielsweise Vizepräsident der World Values Survey Association, die den Wandel globaler Werteeinstellungen untersucht.

Mechtel: Die Forschung in der VWL hat eine sehr internationale Ausrichtung. Hier am Institut für VWL gibt es zahlreiche Kooperationen mit Wissenschaftler*innen aus dem Ausland, beispielsweise von Universitäten aus Zürich, London, Madrid, Amsterdam, Glasgow, Essex, Aarhus, Bergen, um nur ein paar zu nennen. Eine jährlich  im Frühjahr stattfindende Konferenz zu mikroökonomischen Forschungsthemen vertieft diese Kontakte und ermöglicht es auch den Promovierenden, Teil der bestehenden Netzwerke zu werden. Für die Zeit nach der Pandemie arbeiten wir zudem am Ausbau der internationalen Austauschmöglichkeiten für unsere Studierenden.

Was ist das Besondere an der neuen Fakultät (und/oder ihrer Arbeitsweise)?

Mechtel: Wir sind drei eigenständige Fächer, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zu zentralen Fragen unserer Zeit forschen und sich dadurch gegenseitig inspirieren. Es herrscht eine große Offenheit und Neugier, einfach eine sehr positive Dynamik. Natürlich sind wir alle schon seit vielen Jahren den Austausch mit Kolleg*innen über Videokonferenzen gewohnt und nutzen diese Möglichkeiten sehr produktiv – aber die Tatsache, dass die drei Fächer in einem Gebäude versammelt und damit die Wege kurz sind, sollte man nicht unterschätzen. Zudem ist der Austausch mit den Studierenden sehr eng, was auch an der – insbesondere im nationalen Vergleich – jeweils relativ kleinen Zahl an Studierenden in den Studiengängen liegt, die eine hervorragende Betreuungsrelation ermöglicht. 

Terhechte: Wir wollen Forschung und Lehre in ganz besonderer Weise verbinden. Der Staat als komplexes Phänomen lässt sich nur so sinnvoll erfassen. Interdisziplinarität und Internationalität werden hierbei sicher eine überragende Rolle spielen.

Koß: Anstatt wie viele andere ständig eine neue Sau durchs Dorf zu jagen, werden wir uns einer vermeintlich abgelegten Fragestellung widmen, eben der nach dem Staat, seiner Verfasstheit, seinen Möglichkeiten und deren Grenzen. „Bringing the state back in“ war mal eine Forderung innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft, deren Einlösung dann durch die nächste Mode überlagert wurden. Wir sind dran und wollen uns nicht beirren lassen!

Wie soll sie sich in den nächsten Jahren entwickeln?

Koß: Durch die neuen Professuren ist die Politikwissenschaft in der Lage, einerseits ihr Demokratieprofil zu schärfen und andererseits enger mit den beiden anderen Disziplinen zu kooperieren. Das sollte ganz neue Perspektiven insbesondere für Forschungskooperationen ermöglichen.

Mechtel: Wir haben die große Chance, Teil einer perspektivisch wachsenden Fakultät zu sein und damit die Sichtbarkeit unserer Forschungsthemen in einem inspirierenden akademischen Umfeld noch weiter zu stärken. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass Forschung und Lehre Hand in Hand gehen und wir dabei insbesondere die Masterstudierenden an die Forschung heranführen.

Terhechte: Die Fakultät wird in Norddeutschland – und sicher darüber hinaus – durch die Kombination der Fächer eine herausragende Rolle spielen. Durch neue Studienprogramme und internationale Kooperationen wollen wir dazu beitragen, dass unsere Studierende für die Herausforderungen, die die nächsten Dekaden bringen werden, optimal vorbereitet sind.

Vielen Dank!

Kontakt

  • Prof. Dr. Michael Koß
  • Prof. Dr. Mario Mechtel
  • Prof. Dr. Jörg Philipp Terhechte