Der Plastikflut begegnen: Mit intelligenten Produkten

Interview mit Michael Braungart

05.12.2022 Prof. Dr. Michael Braungart gilt als Vordenker für Materialien, Produkte und Technologien der Zukunft. Dem Begründer des „Cradle-to-Cradle“-Designkonzepts wurde am 2. Dezember der Deutsche Nachhaltigkeitspreis verliehen. Seit 1994 lehrt Braungart an der Leuphana Universität Lüneburg. Dabei stellt er sich umfassenden Herausforderungen wie der Plastikflut.

„Alle Materialien, die in die Umwelt gelangen, müssen gesund sein, sonst wird das Mikroplastikproblem immer drastischer.“ ©Matthias Oertel
„Alle Materialien, die in die Umwelt gelangen, müssen gesund sein, sonst wird das Mikroplastikproblem immer drastischer.“
Die Fakultät Nachhaltigkeit gratuliert herzlich zum Deutschen Nachhaltigkeitspreis! Als Pionier von „Cradle-to-Cradle“ leisten Sie wichtige Beiträge für die zirkuläre Wirtschaft geleistet. Können Sie uns erläutern, was Ihr Ansatz ist und wie er zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen soll?
Cradle-to-Cradle (C2C) versteht alle Materialien als Nährstoffe für biologische und technologische Kreisläufe. Produkte, die verschleißen, z.B. Schuhsohlen, werden so designt, dass sie sich bioverträglich abbauen. Alle anderen Produkte, z.B. Waschmaschinen und Fernseher, werden so designt, dass ihre Materialien in gleicher Qualität endlos wieder eingesetzt werden können.
Cradle-to-Cradle will nicht weniger Abfall, sondern schafft den Abfallbegriff ganz ab. Es geht nicht darum, weniger schädlich zu sein, sondern nützlich– auch für künftige Generationen. Der Kalorienverbrauch von Ameisen entspricht dem von 30 Milliarden Menschen, trotzdem sind sie eine Bereicherung für Ökosysteme. Das zeigt: Wir sind nicht zu viele Menschen auf dem Planeten, nur noch nicht gut genug!
C2C verfolgt damit die grundlegende Idee, Menschen als eine Chance für den Planeten zu begreifen und nicht als Belastung. Wenn Menschen sich geschätzt fühlen, dann handeln sie großzügig und freundlich. Wir schaffen dann einen nachhaltigen Lebenswandel, nicht weil er uns vorgeschrieben wird, sondern weil wir uns freuen, dass es anderen auch gut geht.
Plastik flutet die Meere, die Luft, die Böden und Lebewesen. Welche Perspektive haben Sie auf dieses Problem?
Das Problem ist, dass wir die falschen Kunststoffe verwenden. Um ihre Eigenschaften zu verbessern, sie also transparent, elastisch oder feuerfest zu machen, werden ihnen verschiedene Chemikalien hinzugefügt, die unsere Gesundheit gefährden. Viele Materialien wurden nie für Körperkontakt und Umwelteinträge gemacht. Doch die können wir nicht verhindern. Seit der grüne Punkt 1990 startete, ist kein einziger schädlicher Kunststoff, z. B. PVC, kein giftiges Pigment vom Markt verschwunden. Stattdessen wurde die Verpackungsmenge verdoppelt. Wenn wir unsere Welt weiter mit Mikroplastik und Schadstoffen kontaminieren, können wir sie bald überhaupt nicht mehr nutzen. 
Wo entsteht das Problem?
Schon beim Produktdesign! Im Einigungsvertrag von 1990 steht, dass das Sero-System der DDR zu übernehmen sei. Aus wirtschaftlichem Mangel man nur mit Polypropylen verpackt. Aus ökologischen Gründen sollten wir nun das gleiche tun: eine einzige Plastiksorte verwenden, die für Verpackungen und das anschließende Recycling geeignet ist. Eine Wiederverwertung lohnt sich nämlich nur bei sortenreinen Materialien.
In einem Discounter habe ich allein bei den Eigenmarken 52 verschiedene Plastiksorten identifiziert. Es lohnt sich nicht, sie alle zu trennen. Stattdessen werden die Materialien gemischt. Das mindert ihre Qualität.
Die traditionelle Nachhaltigkeit fördert die Optimierung des Bestehenden. In ihrem Namen wird Gewicht gespart und Recycling erhöht. Aber wenn man Produkte recycelt, die nie für Recycling geschaffen wurden, entstehen Deponien an anderer Stelle: Ihre Materialien eigenen sich danach bestenfalls noch als Parkbank oder Blumentopf. Die nächste Nutzung ist praktisch ausgeschlossen. Damit macht man das Falsche perfekt und damit perfekt falsch!
Wie können wir das Problem lösen?
Aktuell profitieren die Hersteller vom Verkauf ihrer Produkte, während die Allgemeinheit die Kosten für deren Entsorgung trägt. Es wäre nötig, am Verursacherprinzip festzuhalten, sodass Produzenten für die Entsorgung verantwortlich bleiben. Wenn das Geschäftsmodell geändert wird, kann der gleiche Bürostuhl mit zwei statt zwanzig Kunststoffsorten produziert werden, da der Hersteller lediglich den Gebrauch vermietet. Weil er sie nach definierten Nutzungszeiten wiederbekommt, setzt er hochwertige Stoffe ein. Produkte werden so zu Dienstleistungen, zu Rohstoffbanken. Ein BMW enthält etwa 180 verschiedene Plastiksorten; ein C2C-Auto ist mit weniger als 15 möglich. Bei Letzterem lohnt es sich, die Materialien zurückzugewinnen. Das setzt ein Design voraus, mit sie trennbar bleiben. Dafür gibt es inzwischen z.B. reversible Klebeverbindungen.
Und alle Materialien, die in die Umwelt gelangen, müssen gesund sein, sonst wird das Mikroplastikproblem immer drastischer. Produkte wie Windeln können perfekt biologisch abbaubar sein. Das haben wir in Israel ausprobiert und dank eines Babys 130 Bäume gepflanzt – damit war das Kind klimapositiv. Wir haben gefragt: Was wäre richtig? Ist der Schritt in die richtige Richtung geeignet, um anzukommen? Es geht nicht um Effizienz, sondern Effektivität.
Wenn das klar ist, warum wird dann noch falsch produziert?
Das eigentliche Problem ist, dass Nachhaltigkeit in Unternehmen immer noch als Teil der Marketing- statt der Innovationsabteilung begriffen wird. Wir haben den Anschluss an die Weltspitze in vielen Technologien bereits verpasst. Aber nach aus 40 Jahren Weltuntergangsdiskussion sind wir motiviert, intelligente Produkte herzustellen. Das ist jedoch keine Marketingaufgabe, sondern die einzige Innovationschance, die Europa bleibt. Denn letztlich kommt es überall auf der Welt auf gesunde Lebensbedingungen an.
Wie beurteilen sie die Verbote von Einwegplastik durch die Europäische Union?
Das ist bisher leider nur Alibi-Politik, ähnlich wie beim Klimaschutz. Produkte verbieten löst kein Problem, wenn ihre Alternativen nicht gut sind. Wollte die EU wirklich zu einer Verbesserung beitragen, müsste sie festlegen, dass in zehn Jahren nur noch Plastik aus dem Kohlenstoff der Atmosphäre gewonnen wird. Der kann direkt an Produktionsanlagen ausgefroren, adsorbiert oder ausgewaschen werden. Das würde auch junge Leute motivieren, mitzumachen.
Stattdessen läuft die EU Gefahr, einen Ökologismus zu entwickeln. Wie der Sozialismus nie sozial war, entsteht jetzt ein System, das nur so tut als wäre es ökologisch. In Hamburg gibt es eine Kupferhütte, die ein Vielfaches des europäischen Hausmülls produziert. Derweil wird Kupfer so wenig recycelt, wie nie. Und es wird knapp! Als ich ein Kind war, enthielt eine Tonne Kupfererz 35 Kilogramm des wertvollen Metalls, das wir zum Beispiel für E-Autos brauchen. Heute sind es nur noch ein bis zwei Kilogramm. Wir müssen also nicht nur Kunststoffe in eine Kreislaufwirtschaft integrieren.
Die Circular Economy Initiative der EU enthält immerhin über 80% des „Cradle-to-Cradle“-Ansatzes. Das geht vor allem auf die Ellen MacArthur Foundation zurück, die das zielstrebig in die Gesetzgebung eingebracht hat. Nun ist es an den Unternehmen, diese Innovationschance zu ergreifen!
Vielen Dank!