Diversity Tag: Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschlechtervielfalt.

17.05.2021 Dr. Monika Schoop, Juniorprofessorin für Musikwissenschaft, insbesondere Popular Music Studies, und Dr. Ben Trott, Gastwissenschaftler am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, sprechen im Interview über Queer Studies, Intersektionalität und Geschlechtsidentitäten.

Wie hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Sexualitäten und Geschlechtervielfalt in Euren jeweiligen Fachkontexten bzw. Disziplinen entwickelt?
Monika Schopp: In meiner Disziplin, der Musikethnologie, folgt die Entwicklung einem Muster, das auch in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu finden ist. In den 1970er Jahren entstanden Ansätze, die heute als „kompensatorisch“ bezeichnet werden. Es ging erst einmal darum, Männlichkeit als Norm zu hinterfragen und Frauen und ihre musikalischen Praktiken sichtbar zu machen. Diese Forschung reproduzierte sehr stark ein binäres Geschlechtermodell. In den 1980er Jahren verschiebt sich dann der Fokus von Frauen hin zu Gender und damit zur Analyse von Performanz und Konstruktion von Geschlecht, allerdings noch in einem binären System. Das lässt sich zum Beispiel an der Arbeit der Musikethnologin Ellen Koskoff gut nachvollziehen, die Mitte der 1980er Jahre vor Veröffentlichung ihres Sammelbandes Women and Music in Cross-Cultural Perspective (1987) überlegte, das Wort Frauen durch Gender zu ersetzen.
Eine Auseinandersetzung mit Geschlechtervielfalt und auch dem Thema Sexualität findet sich aber erst wesentlich später. Genau genommen in den 2000er Jahren, zum Beispiel in der Erforschung von queerem Nachtleben oder der Performance von Geschlecht als fluider Kategorie. Das sind aber zunächst Ausnahmen. Wie die Musikethnologin Kay Kaufman Shelemay konstatiert, sind musikethnologische Ansätze wirklich lange Zeit von einem „habitus of compulsory heterosexuality” geprägt. Das ist eigentlich verwunderlich, denn in der historischen Musikwissenschaft, die ja oft als sehr viel konservativer eingeschätzt wird, gab es schon in den 1990er Jahren Auseinandersetzungen mit dem Thema Sexualität. Auch in den Popular Music Studies sieht das ganz anders aus. 

Ben Trott: Als Teilgebiet der Cultural Studies konsolidierten sich die Queer Studies zunächst um eine Reihe interdisziplinärer wissenschaftlicher Bemühungen, die sich alle mit bedeutenden Fragen der Definition von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften befassten. Teil dieser Bemühungen waren Soziolog*innen und Historiker*innen, welche die Entstehung einer spezifischen schwulen männlichen Subjektivität inmitten von Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozessen untersuchten; Psychoanalytiker*innen, die versuchten, eine Darstellung lesbischen Begehrens und lesbischer Sexualität durch feministische Lesarten von Freud und Lacan zu entwickeln; Literaturtheoretiker*innen, die sich mit der modernen Entstehung der „Wahl des Geschlechtsobjekts“ als bestimmendem Merkmal der „sexuellen Orientierung“ beschäftigten; sowie Film- und Medienwissenschaftler*innen, die sich mit dem Einfluss des schwulen und lesbischen Film- und Videoaktivismus auf das Kino befassten. All diese frühen Beiträge waren von einer produktiven Spannung geprägt, die das Feld bis heute ausmacht. Einerseits untersuchen die Queer Studies die sozioökonomischen Realitäten, Geschichten, Subkulturen und politischen Rechte von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten sowie deren Formen der kulturellen Produktion und Repräsentation. Zum anderen thematisieren sie die Art und Weise, wie geschlechtliche und sexuelle Normen sowie ihre Anfechtung und Transformation, die moderne Kultur als Ganzes prägen und von ihr geprägt werden.
Worin seht Ihr besondere Herausforderungen in Eurem Forschungsfeld? Gibt es dabei Überschneidungen bzw. Anknüpfungspunkte zwischen Musikethnologie und den Queer Studies? Könnt Ihr hierfür ein konkretes Beispiel geben?
Monika Schoop: Durch den Sammelband Queering the Field (2017) von Gregory Barz und William Cheng sind explizit queere Ansätze endlich vermehrt in den Fokus der Musikethnologie gerückt. Die Beiträge geben einen guten Einblick in aktuelle Herausforderungen einer queeren Musikethnologie. Zum einen Methoden: Die eben genannte Erforschung queeren Nachtlebens beispielsweise stellt einen vor Herausforderungen, deren Bewältigung kein Feldforschungs-Seminar an der Uni vermittelt. Aber auch ethische Fragen: Die nach wie vor in vielen Kontexten vorherrschende Stigmatisierung oder sogar Kriminalisierung birgt Gefahren – für diejenigen, die an Studien teilnehmen, aber auch für diejenigen, die sie durchführen.

Ben Trott: Die von Monika Schoop erwähnte Entwicklung von queeren Forschungsmethoden und Methodologien ist wirklich wichtig. Es gibt in der Tat echte Herausforderungen, wenn es darum geht, auf queere Art und Weise zu forschen, das heißt, auf eine Art und Weise, die nicht die geschlechtlichen und sexuellen Kategorien oder Verhaltensweisen voraussetzt, die es erst zu entdecken gilt. Die Queer Studies setzen sich derzeit auch mit einigen der großen politischen, ökonomischen und kulturellen Transformationen auseinander, die die heutige Gesellschaft bestimmen. Wissenschaftler*innen innerhalb des Feldes haben sich angewöhnt, Kritiken am „queeren Liberalismus“ zu entwickeln. Die Kritik zielt hierbei auf jene sozial-liberale Formen der Inklusion, die sich an den an sich lobenswerten Zielen einer größeren kulturellen Repräsentation und formalen rechtlichen Gleichheit orientieren, die jedoch gleichzeitig und bedauerlicherweise oft einige der weitergehenden politischen Fragen rund um das Wesen und die Bedeutung von Gleichheit, Gerechtigkeit oder Befreiung ausklammern, die von früheren LGBT-Bewegungen aufgeworfen wurden. Da aber sozial-liberale politische Projekte heute in weiten Teilen der Welt im Niedergang begriffen zu sein scheinen, denke ich, dass eine Herausforderung für die queere Konjunkturanalyse darin besteht, eine Erklärung für die scheinbar zentrale Rolle zu entwickeln, die Fragen der Sexualität und insbesondere „Gender“ beim derzeitigen Aufstieg rechter und autoritärer politischer Projekte spielen. Eine sozial engagierte queere Wissenschaft wird sich sowohl mit der aktuellen Bedrohung von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten auseinandersetzen müssen, als auch mit den Ursachen für den stetigen Niedergang des Sozialliberalismus (und auch der Sozialdemokratie) als politische Projekte. Ich denke, dass es eine Chance gibt, alte Fragen nach Gleichheit, Gerechtigkeit oder Befreiung neu zu stellen, und zwar auf eine Art und Weise, die diese beiden Phänomene berücksichtigt. 
Welche Rolle spielt das Konzept der Intersektionalität und damit Mehrfachverschränkungen unterschiedlicher Kategorien wie z.B. race, class und gender?
Ben Trott: Ideen über vermeintlich „normale“ Sexualität oder darüber, was es bedeutet, ein „durchschnittlicher“ Mann oder eine „durchschnittliche“ Frau zu sein, sind, denke ich, ganz klar von Fragen der sozialen Klasse geprägt, aber auch von Fragen des Alters, von Behinderung - und allzu oft von Rassismus. In diesem Bereich wurde viel gearbeitet, lange bevor die Queer Studies als Feld entstanden, und zwar vor allem von Schwarzen Feminist*innen und Feminist*innen of Color wie Cherríe Moraga, Gloria Anzaldúa, Audre Lorde, Barbara Smith und dem Combahee River Collective. Diese Autor*innen prägen auch heute noch einige der überzeugendsten Queer-Forschungen, insbesondere von jenen, die in der Tradition der „Queer of Colour Critique“ arbeiten. Niemand existiert als eindimensionales Subjekt, einfach als Mann, Frau oder nicht-binäre Person, oder als schwule oder lesbische oder trans Person.

Monika Schoop: Implizit fand die Verschränkung von Diversitätskategorien schon seit den frühen Tagen der Disziplin Beachtung: In der Beschreibung musikalischer Praktiken finden sich regelmäßig Informationen zu Diversitätskategorien wie Ethnizität, Geschlecht, Alter. Aber dass die Verschränkungen kritisch reflektiert und auf Intersektionalität als theoretisches Konzept Bezug genommen wird, ist tatsächlich ein Phänomen des neuen Jahrtausends.
Welches Phänomen findet Ihr besonders spannend und würdet Ihr gerne erforschen?
Monika Schoop: Im Kontext meiner Arbeit zu Musik und Aktivismus auf den Philippinen würde ich gerne mehr über queer-feministischen Aktivismus erfahren. Ich hoffe sehr, bald wieder reisen zu können!

Ben Trott: Eine Sache, die mich interessiert, ist, wie queere Sozialitäten und Subkulturen durch die Pandemie rekonfiguriert wurden.

Vielen Dank für das Gespräch!

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