LIAS-Lecture: Wie man Stuart Hall wird (David Scott)
26.06.2024 David Scott, Professor für Anthropologie an der Columbia Universität stellte in seiner LIAS Lecture seine Arbeit an der Biografie über den Soziologen Stuart Hall (1932–2014) vor, dessen Forschung zum Kolonialismus ihn zu einer tragenden Säule der Cultural Studies machte.
David Scott, wie Hall in Jamaika geboren, hat maßgeblich zur intellektuellen Entwicklung der Karibik beigetragen, wie Senior Fellow Richard Drayton in seiner Einführung klarstellte. Der New Yorker Wissenschaftler schreibe „die Vergangenheit in und für die Gegenwart.”
Scotts Vortrag stelle vorläufige Notizen zu Halls Leben von 1932 bis 1957 dar. Rückblickend betrachtet war Stuart Halls Konstituierung der „Cultural Studies“ aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen von vorneherein postkolonial, weil Hall 1951 aus Jamaika nach Großbritannien emigrierte. Vor diesem Hintergrund wurde er schließlich zu einer der zentralen Figuren der „New Left“ und der Cultural Studies. David Scott beleuchtete Halls einzigartige intellektuelle Lebensweise, die durch Dialog und ethische Großzügigkeit geprägt war.
Basierend auf seiner Auffassung der Biografie, als eine literarische Form, die weder Fiktion noch Theorie sei, begründete Scott seine Vorgehensweise, das Lebensgefühl Stuart Halls, der als jüngstes Kind einer braunen Mittelklassefamilie in Jamaika geboren wurde, als subjektiven Blickpunkt auf sein Leben zum Anlass zu nehmen, ein „narratives Bild zu arrangieren“.
In zehn Jahren zum intellektuellen Leader der New Left
Wie wurde Stuart Hall von einem Anfang 20-jährigen Jamaikaner, der mit seiner Mutter Großbritannien erreicht in nur knapp zehn Jahren zu einer der zentralen Akteure der „New Left“? Denn er war nicht nur ein angehender Schriftsteller und Doktorand, sondern ab 1960 Herausgeber einer neuen Zeitschrift, der immer noch erscheinenden „New Left Review“. Wie Scott zeigte, war 1956 ein entscheidendes Jahr in Stuart Halls Lebensgeschichte. Er selbst bezeichnete das Jahr als „Scharnier“ (hinge) zwischen seiner Lebensphase als kolonialisiertem Subjekt im Jamaika der 1930er- und 1940er-Jahre und seiner Rolle als politischer Intellektueller in den 1950er-Jahren in Großbritannien. In Oxford begann Hall, sich zunehmend politisch zu engagieren.
Dabei ist die Begegnung mit Raymond Williams in Oxford zentral, wo Hall Seminare zur sozialistischen Theorie und englischen Literatur belegte. Die Begegnung mit dem Autor von „The Idea of Culture“ (1953) und dem Buch „Culture and Society“ (1958) verändert Halls Leben; Williams, 15 Jahre älter, wird zur zentralen intellektuellen Figur. Und das bedeutende „Scharnier-Jahr“ 1956 beginnt, so erzählt David Scott, mit der kritischen Auseinandersetzung mit dem Manuskript von „Culture and Society“ und der Idee eines Kulturbegriffs in der kritischen Linken. Dieser verabschiedete sich von der britischen und europäischen Tradition und verankerte Kultur im gelebten Alltag. Ohne Stuart Hall und andere Vordenker der britischen Linken wären wissenschaftliche Untersuchungen von menschlichen Praktiken als kulturelle Phänomene undenkbar. Aber auch die Verankerung dieser Praktiken im Diskurs sowie die sich daraus ergebende Konstruktion von Differenzen geht auf Stuart Hall und seine Mittdenker zurück.
Die politischen Schockwellen von 1956
Im gleichen Jahr 1956 schlagen die Russen den Aufstand in Ungarn nieder und beteiligen sich Großbritannien und Frankreich an einer Invasion des Suezkanals. Diese beiden Ereignisse, die nur wenige Tage auseinander lagen, enthüllten die untergründige Gewalt und Aggression der zwei dominierenden politischen Systeme, dem westlichen Imperialismus und dem Stalinismus, so erinnerte sich Stuart Hall später. „Schockwellen“ seien durch die politische Welt gegangen und definierten für Halls Generation die Grenzen des politisch tolerierbaren. Nur ein Jahr später entstanden zentrale linke Zeitschriften in Großbritannien, „The New Reasoner“ und „Universities and Left Review“, aus deren Zusammenschluss 1960 „New Left Review“ entstand, deren Herausgeber Stuart Hall war.
David Scott zeigte anhand seiner Forschungen u.a. in der Cadbury Research Library der Universität von Birmingham, wo die meisten Unterlagen Halls verwahrt werden, sowie im Privathaus von Stuart Hall und seiner Frau Catherine in West Hempstedt eindrucksvoll, wie Stuart Halls Werk und Leben als intellektuelles Abenteuer und öffentliche Herausforderung zu verstehen sind.