Diversity-Tag: „Rassismus ist nicht immer und überall dasselbe“

31.05.2022 Prof. Dr. Serhat Karakayalı möchte dazu beitragen von einem starren Rassismusbegriff wegzukommen. Das würde der gesellschaftspolitischen Debatte guttun. Der Professor für Migration and Mobility an der Fakultät Kulturwissenschaften im Interview.

Interview Icon ©Leuphana
„Rassismus ist nicht immer und überall dasselbe, sondern geht aus gesellschaftlichen Machtverhältnissen hervor und das sind eben keine starren Gebilde", sagt Prof. Karakayalı.
Ihre Forschungsinteressen sind unter anderem Migrations- und Mobilitätsforschung, Rassismusforschung, Rassismustheorie, Solidarität und Diversität. Wie war Ihr Weg zu diesen Forschungsthemen?
Während meines Studiums habe ich mich eigentlich mehr mit Themen wie der Regulationstheorie oder „Versicherung als Sozialtechnologie“ beschäftigt. Über die Beschäftigung mit sozialen Kompromissen bin ich dann zur Migrationsforschung gekommen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es diesen Zusammenhang, wonach soziale Kohäsion in Europa als umgekehrt proportional zur Einwanderung gedacht wird. Das führt aber nun nicht zu einer vollständigen Abschottung, weil die Migrant*innen gebraucht werden. Diesen Kompromiss kann oder will man nicht auf die ganze Arbeitswelt ausdehnen. Das Besondere an dieser Situation ist, dass nun diejenigen, die die am schlechtesten bezahlten Tätigkeiten verrichten, zunehmend Menschen sind, deren marginale Stellung ganz anders rechtfertigbar wird, etwa indem man diese Unterschiede als kulturelle deutet. Das Thema Solidarität kam ins Spiel, als mir klar wurde, dass solche Arrangements krisenanfällig sind. Entscheidend für den Ausgang solcher Krisen aber ist, ob es denen, die benachteiligt wurden gelingt, ihren Kampf zur Sache auch anderer Gruppen zu machen.
Ist das auch Gegenstand Ihres letzten Forschungsprojekt über Diversität in Organisationen?
In gewisser Weise schon. Wir vergleichen große zivilgesellschaftliche Organisationen auf ihren Umgang mit migrationsbezogener Vielfalt. Die sind ihrerseits aus sozialen Bewegungen hervorgegangen und ihre organisationale Identität ist von einem grundlegenden Gleichheitsanspruch geprägt. Was mich besonders interessiert hat war: Wie argumentieren migrantische Akteur*innen, wenn sie an die Solidarität der anderen appellieren? Unter welchen Bedingungen gelingt es ihnen, Unterstützung für ihre Forderungen nach gleicher Repräsentation zu erhalten? Eine eindeutige Antwort gibt es hierauf leider nicht. Aber was schon auffällig ist: Rassismusvorwürfe werden heute öfter ernst genommen, was vermutlich damit zu tun hat, dass der Rassismusbegriff in der Öffentlichkeit mittlerweile eine gewisse Resonanz hat.
Hat das auch Folgen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland?  
Es hatte zwar schon länger Kolleg*innen gegeben, die mit dem Rassismusbegriff gearbeitet und die internationale Debatte nach Deutschland geholt hatten. Aber im Mainstream der Forschung hatte der Begriff keine Chance – außer es ging um Südafrika oder die USA. Diese Engführung hat im Grunde verhindert, dass wir den Rassismusbegriff empirisch sättigen konnten – stattdessen wurden Konzepte aus den USA und Großbritannien nahtlos nach Deutschland übertragen. Rassismus ist nicht immer und überall dasselbe, sondern geht aus gesellschaftlichen Machtverhältnissen hervor und das sind eben keine starren Gebilde.
Was ist Ihr Ansatz bei der Erforschung von Rassismus?
Sehr vieles, was unter Rassismusforschung figuriert, geht so: Man nimmt eine gängige Definition und dann klopft man Menschen - allein oder in Gruppen - aber auch Texte, Bilder und andere Artefakte daraufhin ab, ob und zu welchem Anteil sie „rassistisch“ sind. Das ist sicher auch nötig, aber viel spannender ist es aus meiner Sicht, wenn man sich der epistemischen Unschärfe des Begriffs stellt. Dass „Rassen“ oder ihr Pendant, die „Kulturen“ sozial konstruiert seien wird mir da zu oft als Lösung und Antwort gebracht, dabei fängt es hier erst an spannend zu werden, denn sozial konstruiert ist nun fast alles, aber eben nicht auf die gleiche Weise, sondern mit ganz unterschiedlichen Modalitäten. Manche sozialen Tatsachen erscheinen wie eine zweite Natur, andere dagegen sind für alle als Konventionen durchschaubar. Konventionelle Rassismusdefinitionen interessieren sich in der Regel für einen Ausschnitt aus diesem Kontinuum (oder behaupten, dass alles das Gleiche sei), mich interessieren dagegen die Übergänge zwischen diesen verschiedenen Aggregatzuständen. Welche Prozesse führen zu Wechseln oder Metamorphosen? Das scheint mir eine wesentliche Voraussetzung, um zu verstehen, warum es überhaupt zeitliche und geografische Unterschiede gibt. Warum wird in einem Land die eine, in einem anderen eine ganz andere Gruppe zum Objekt von Prozessen der Rassifizierung? Was das Ganze noch komplizierter macht, ist, dass die Menschen sich gegen solche Rassifizierungen und deren Folgen wehren. Diese Widerstände dynamisieren Prozesse der Rassifizierung und tragen ihrerseits dazu bei, dass der Rassismus sich immerzu verändert. Ich will also dazu beitragen, dass wir von einem starren Rassismusbegriff wegkommen hin zu einem dynamischen, in dem Rassismus von Konflikten durchzogen ist. Das würde auch der gesellschaftspolitischen Debatte guttun. 
Vielen Dank für das Interview!

Am 31. Mai 2022 um 17 Uhr wird im Rahmen des diesjährigen Diversity-Tages der Vortrag „Die Metamorphosen des Rassismusbegriffs - und damit verbundene Herausforderungen eines Forschungsfeldes“ in C40.606 stattfinden. Der Rassismusbegriff wurde mehrfach neu gedeutet und umgearbeitet. Der Vortrag von Prof. Dr. Serhat Karakayalı nimmt solche Deutungskonflikte um Umfang und theoretische Grundannahme des Rassismusbegriffs zum Ausgangspunkt für eine Analyse von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Dabei soll unter anderem der Frage nachgegangen werden, weshalb der Begriff gerade in Deutschland, wo Rassismus während der nationalsozialistischen Herrschaft Staatsdoktrin war, in den Wissenschaften derart abgewehrt worden ist oder wie es zum internationalen Aufstieg des Begriffs ab den 1960er-Jahren kam. Vor dem Hintergrund solcher historischen Rekonstruktionen wird eine Einordnung aktuelle Kontroversen um den Begriff vorgenommen.

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  • Prof. Dr. Serhat Karakayali