Neu an der Leuphana: Prof. Dr. Kevin Drews – Blick auf Ungesehenes

12.02.2024 Der Literaturwissenschaftler Kevin Drews wurde zum Juniorprofessor für Literatur und Theorie berufen. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit der Rolle und dem kritischen Potential von Literatur in historischen und aktuellen Kontexten gesellschaftlicher Krisen und Transformationen.

©Leuphana/Teresa Halbreiter
©Leuphana/Teresa Halbreiter
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Herr Professor Drews, wo liegt Ihr besonderes Forschungsinteresse?
Eine grundsätzliche Frage lautet: Was bietet uns die Literatur für die Erkenntnis und für den Umgang mit Herausforderungen der Gegenwart? Nicht nur unserer Gegenwart, sondern auch historisch betrachtet.
Literatur arbeitet immer mit Fiktion, aber greift häufig auch zurück auf Geschichtsbilder, auf Zeitungen, Archivdokumente, Tagebücher. Und dieses Zwischenspiel, diese besondere Aushandlung zwischen Fiktion und Fakten interessiert mich besonders. Es gibt kein Ja oder Nein; kein Schwarz oder Weiß. Die Dinge sind kompliziert und Literatur kann uns helfen, an konkreten Gegenständen, konkreten Lebenswelten, Erfahrung mit diesen Gegenständen zu machen. Und die Theorie der Literatur hilft uns insbesondere in der Lehre, ein belastbares Vokabular zu entwickeln, um uns über solche Ambivalenzen, Ambiguitäten zu verständigen. Dann kann Literatur etwas sichtbar machen, was in anderen Texten nicht vorkommt.
Sie haben zuletzt in dem DFG-Projekt „Literarische Chronistik“ geforscht, wo Sie auch noch assoziiert sind. Warum ist diese eigentlich mittelalterliche Form der Geschichtsschreibung wieder aktuell?
Eine Grundannahme des Projekts ist, dass bestimmte geschichtsphilosophische Begriffe wie Fortschritt spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs brüchig werden. Bis dahin hatte sich die moderne Geschichtsschreibung großer Narrative bedient, Chroniken konnten dabei allenfalls ein Hilfsmittel sein. Aber Anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine neue Faszination für diese reduktive Form der Geschichtsschreibung, die eher ein Notationsverfahren ist und versucht darzustellen, was Tag für Tag passiert.
Auch jetzt aktuell etwa durch den Ukraine-Krieg gibt es wieder vermehrt literarische Texte, die als Chroniken gestaltet sind. Chronik ist also alles andere als ein Anachronismus. In der Literaturkritik wird der Begriff häufig als ein „authentisches“ Stilmittel eingeordnet. Dort schreibt jemand am Puls der Zeit.
Sie haben zur Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin und Salomo Friedlaender promoviert. Wie beeinflussten sich beide?
Friedlaender war in seiner Zeit ein bekannter Schriftsteller und Philosoph. Anders als Benjamin, der erst posthum zu einer Gründungsfigur der neueren Literatur- und Medienkulturwissenschaften wurde. Diese gegenläufigen Bewegungen sind an sich schon sehr spannend.
Walter Benjamin hat sich sein Leben lang mit Friedlaender beschäftigt. Entlang einer vergleichenden Untersuchung habe ich gezeigt, wie beide Autoren die Denkfigur der ‚Polarität‘ als zeitdiagnostisches Erkenntnismedium nutzen, um die Krisen, Spannungen und Extreme der Zeit auf ihren Begriff zu bringen. Heute meint Polarität dagegen meist etwas, was komplett auseinandergeht. Aber in der Polarität dürfen die Fliehkräfte nicht so weit auseinandergehen, dass sie gar kein Spannungsfeld mehr haben. Beiden ging es um ein Denken in Intensitäten, um die Aufladung der Zeit mit Gegensätzen, um die Gleichzeitigkeit von Anziehung und Abstoßung, bei Benjamin etwa zwischen den Polen Marxismus und Theologie.
In einem neuen Forschungsprojekt beschäftigen Sie sich mit der Literatur des Anthropozäns.
Wenn wir vom Anthropozän sprechen, sind wir mit sehr unterschiedlichen Zeitvorstellungen konfrontiert. Auf der einen Seite haben wir die unvorstellbar weit zurückreichende geologische Tiefenzeit. Auf der anderen Seite haben wir die sinnlich nicht wahrnehmbaren ökologischen Kipppunkte, die einen dramatischen Zeitindex haben. In diesem Zusammenhang interessiert mich, welche konkreten literarischen Verfahren eingesetzt werden, um solche Konfrontationen unterschiedlicher Zeitstrukturen erfahrbar und verhandelbar zu machen. So etwas wie Climate Fiction gibt es schon länger. Ich denke etwa an „Der Schwarm“ von Frank Schätzing. Mir geht es aber um Schreibweisen, die eingesetzt werden, um die anthropozäne Zeit zu modellieren und Deutungen dieser Zeit zu entwerfen. Dabei fokussiere ich mich bewusst nicht nur auf den Roman. Das Tagebuch mit seinen subjektiven Eindrücken kann ein literarisches Mittel sein wie beispielsweise die „Carbon Diaries“ von Saci Lloyd, also nicht nur sogenannte Hochkultur. Aber auch Montagen oder Essays können Mittel sein. Das Anthropozän braucht andere, komplexe literarische Verfahren, als eine Geschichte, die von A nach B geht. Aus dieser Perspektive hat uns die Literatur angesichts der gegenwärtigen Umbrüche in der Ordnung des Wissens im Zeichen des Anthropozäns noch viel mehr zu sagen.
Vielen Dank für das Gespräch!

Kevin Drews studierte Germanistik und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum (B.A.) und an der Humboldt-Universität zu Berlin (M.A.). Er promovierte am Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften der Universität Hamburg. Bis 2019 war er Assoziiertes Mitglied des PhD-Net ‚Das Wissen der Literatur‘ an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2019 bis 2020 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur von Prof. Dr. Cornelia Zumbusch an der Universität Hamburg. 2022 promovierte er zum Thema „Inmitten der Extreme. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin und Salomo Friedlaender“, erschienen 2023 bei Brill/Fink. Bis Ende 2023 forschte er im DFG-Projekt „Literarische Chronistik. Elemente einer Schreibweise der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts“ unter der Leitung von Prof. Dr. Daniel Weidner (Universität Halle). 2024 wurde er zum Juniorprofessor (W1) für Literatur und Theorie an der Leuphana berufen.