Sicherheitsforschung: Kooperation statt Konfrontation

15.09.2025 Angesichts der geopolitischen Herausforderungen, insbesondere durch den Krieg in der Ukraine, wird die Bedeutung multilateraler Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik zunehmend erkannt. Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Tobias Lenz betont: „Kooperation und Sicherheit müssen als untrennbare Größen betrachtet werden.“

©Leuphana/Gregor Jaap
„Lang anhaltende Friedensperioden, die sich über Jahrhunderte erstrecken, kennt die Geschichte kaum“, erklärt Prof. Dr. Tobias Lenz, „und wenn, dann als Folge der unangefochtenen militärischen Überlegenheit führender Mächte.“

Auf Straßenplakaten wirbt die Bundeswehr, Talkgäste debattieren über Deutschlands Kriegstüchtigkeit. Ist unsere Sicherheit bedroht?

Prof. Dr. Tobias Lenz: Wir können eine Bedrohung zumindest nicht ausschließen. Angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ist es staatstragend geboten, Sicherheits- und Militärpolitik neu auszurichten – einschließlich der Diskussion über Aufrüstung und Wehrpflicht. Zwar steht Deutschland derzeit nicht im Fokus russischer Angriffspläne, vielmehr sind das Baltikum und Ostpolen bedroht. Doch als NATO-Mitglied müssten wir uns an der gemeinsamen Verteidigung beteiligen. US-Präsident Trump hat unmissverständlich klar gemacht: Europa muss künftig selbst für seine Sicherheit sorgen – und als größte Volkswirtschaft Europas trägt Deutschland besondere Verantwortung für Europas Sicherheit.

Wie müsste sich Europa aufstellen, um die eigene Sicherheit zu gewährlesisten?

Unser Ziel muss die wirksame Abschreckung Russlands sein. Voraussetzung dafür ist eine engere Zusammenarbeit. Denn obwohl Europa global mehr in Verteidigung investiert als Russland, bleibt die Ausbeute gering: Die EU-Staaten produzieren ineffizient und national isoliert, was zu hohen Kosten und redundanten Systemen führt. Es ist daher unerlässlich, nationalen Alleingängen abzuschwören. Wir müssen auf Kooperation setzen.

Kann die EU‑Kommission die Verteidigungskoordination in Europa erfolgreich übernehmen?

Ob sie langfristig die nötige Durchschlagskraft besitzt, bleibt abzuwarten. Sie hat seit einigen Jahren deutlich an Einfluss im Verteidigungsbereich gewonnen – etwa durch den Europäischen Verteidigungsfonds und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, die die Mitgliedstaaten enger bei Forschung, Entwicklung und Beschaffung zusammenbringen sollen. Dennoch bleibt die Verteidigungspolitik eine klassische Domäne nationaler Souveränität. Frühere Versuche einer engeren Kooperation – etwa Debatten seit den späten 1990er Jahren über gemeinsame Rüstungsbeschaffung im Rahmen des Amsterdamer Vertrags, der die Union für Friedenseinsätze stärken sollte, ohne aber die NATO-Strukturen zu berühren – verliefen weitgehend im Sand, weil nationale Interessen und industriepolitische Erwägungen dominierten. Heute aber zwingt uns Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine in eine völlig neue Lage. Der Handlungsdruck ist enorm und die Kommission versucht sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.

In den 90er Jahren war Großbritannien noch Mitglied der EU. Schwächt uns der Brexit militärisch?

Nein, das erkenne ich nicht. Das Vereinigte Königreich bleibt Mitglied der NATO und engagiert sich weiterhin aktiv in europäischen Sicherheitsstrukturen. Mit Deutschland verbindet es eine enge militärische Zusammenarbeit. Erst kürzlich wurden zwei wichtige Abkommen unterzeichnet: Die Trinity‑House‑Vereinbarung geht einen bedeutenden Schritt bilateral abgestimmter Verteidigungspolitik: militärische, Raumfahrt- und Cyberkooperation werden systematisch ausgebaut, einschließlich der gemeinsamen Entwicklung von Langstreckenwaffen. Mit dem im Juli 2025 abgeschlossen Kensington‑Vertrag vertieften UK-Premier Keir Starmer und Kanzler Friedrich Merz die Kooperation in Verteidigung und Sicherheit - insbesondere um gemeinsame Rüstungsprojekte, Militärhilfe für die Ukraine und eine bilaterale Beistandsklausel.

Wie kann die Politikwissenschaft helfen, Antworten auf die drängenden Sicherheitsfragen zu finden?

Die Politikwissenschaft trägt maßgeblich dazu bei, die sicherheitspolitische Debatte zu versachlichen. Durch systematische Analysen und empirische Forschung liefert sie objektive Daten, die als Grundlage für politische Entscheidungen dienen können. Außerdem hilft sie, die Effizient sicherheitspolitischer Strategien und die Risiken bestimmter Maßnahmen besser einzuschätzen. Hinzu kommen Szenarienanalysen, die Handlungsoptionen aufzeigen. Diese wissenschaftlich fundierte Herangehensweise unterstützt Entscheidungsträger dabei, rationale und langfristig tragfähige Lösungen für komplexe sicherheitspolitische Herausforderungen zu entwickeln.

Sie forschen intensiv zur internationalen Zusammenarbeit, vor allem im Kontext internationaler Organisationen. Wie gelingt es Staaten, Probleme gemeinsam zu lösen?

Kooperation und Sicherheit müssen als untrennbare Größen betrachtet werden. Traditionell wurden die beiden Felder in den internationalen Beziehungen getrennt gesehen: Es gab Wissenschaftler*innen, die sich mit staatlicher Sicherheit beschäftigten, und solche, die internationale Kooperationen erforschten. Wir möchten dieses Denken zusammenführen und mithelfen, Sicherheit als kooperatives Unterfangen zu denken. 

Könnte die Abschreckung Russlands überhaupt nationalstaatlich gelingen?

Nein, im Unterschied zu hegemonialen Mächten wie den USA ist Deutschland auf multilaterale Zusammenarbeit angewiesen. Die Abschreckung Russlands lässt sich nur im Bündnis schaffen. Deshalb ist es für uns besonders wichtig, das Prinzip der Kooperation auch im sicherheitspolitischen Bereich konsequent zu verfolgen. Die Geschichte des Holocaust hat das außenpolitische Selbstverständnis Deutschlands tief geprägt: Der „deutsche Sonderweg“, der in die Katastrophe führte, darf sich niemals wiederholen. Deshalb engagiert sich Deutschland intensiv auf internationaler Ebene – in der EU, der NATO und bei den Vereinten Nationen.

Wie selbstverständlich ist Frieden eigentlich?

Er ist historisch eher die Ausnahme als die Regel. Lang anhaltende Friedensperioden, die sich über Jahrhunderte erstrecken, kennt die Geschichte kaum; und wenn, dann als Folge der unangefochtenen militärischen Überlegenheit führender Mächte. Europa profitierte bis zum Angriff auf die Ukraine fast 80 Jahre von einem beispiellosen Frieden durch freiwillige Kooperation – eine historische Errungenschaft, die wir auch der engen Zusammenarbeit in der Europäischen Union verdanken.

Vielen Dank für das Gespräch!

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  • Prof. Dr. Tobias Lenz