Erinnerungskultur gemeinsam neugestalten
02.11.2025 Was prägt eine postmigrantische Gesellschaft? Welche Erfahrungen geraten in Vergessenheit? Worüber singen wir Lieder und schreiben Geschichten? Wovon hören Kinder im Schulunterricht? Im interdisziplinären Vorhaben „Zukünfte des Erinnerns“ forschen Wissenschaftler*innen der Leuphana zu Erinnerungskulturen in der Postmigrationsgesellschaft.
                                ©Leuphana/Phillip Bachmann
                            Als Armando Rodrigues de Sá am 10. September 1964 am Bahnhof Köln Deutz eintrifft, wird er als millionster „Gastarbeiter“ in Deutschland gefeiert. Die Szene ist medienwirksam inszeniert: Blumen, Kameras – und ein Moped der Marke Zündapp als Willkommensgeschenk. Das Krad steht heute im Haus der Geschichte in Bonn und wird von Besucher*innen bestaunt. Doch der Mensch hinter der Geschichte bleibt unbekannt.
„An Rodrigues de Sá und sein Schicksal erinnert heute kaum jemand“, sagt Prof. Dr. Kevin Drews, Professor für Literatur an der Leuphana. „Der Schlosser kehrte nach Portugal zurück, wurde später schwer krank – ohne zu wissen, dass ihm in Deutschland medizinische Versorgung zugestanden hätte.“
„Zentraler Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur ist die Erinnerung an die NS-Zeit,“ erklärt Prof. Dr. Monika Schoop. Die Professorin für Musikwissenschaft fährt fort: „Aus Perspektive der Postmigrationsgesellschaft treten Themen wie Kolonialismus, Rassismus, rechte Gewalt und Migration hinzu.“
Eine solche Perspektiverweiterung sei wichtig, da sie Kontinuitäten der Ausgrenzung, Marginalisierung und Gewalt sichtbar macht. Sie führe aber auch zu Spannungen. „Die Frage steht im Raum, ob durch neue Themenschwerpunkte anderen historischen Ereignissen Aufmerksamkeit entzogen wird, schließlich sind Ressourcen in der Erinnerungsarbeit begrenzt“, so Monika Schoop.
Im 15-monatigen Forschungsprojekt werden Forschungsstände zusammengetragen, Schnittmengen identifiziert und der Dialog mit der Stadtgesellschaft gesucht. „Wir wollen gemeinsam herausfinden, wie der Mehrstimmigkeit unserer vielfältigen Gesellschaft im Erinnern Rechnung getragen werden kann. Offenheit und Prozessualität sind ein wichtiger Teil unserer Forschung“, sagt die wissenschaftliche Projektmitarbeiterin Lea Otremba.
Studierende werden im Rahmen von Lehrforschungsseminaren in das Projekt einbezogen. Geplant sind die gemeinsame Erarbeitung einer Literaturzeitschrift sowie einer Ausstellung, in der musikalische sowie schulisch-pädagogische Praktiken des Erinnerns in der Postmigrationsgesellschaft dokumentiert werden sollen. Denn, so Prof. Dr. Ellen Kollender, Professorin für Inklusion und Diversität: „Schulen sind zentrale Arena des transnationalen Erinnerns. Die plurale Zusammensetzung von Schulklassen mit unterschiedlichen familiären Bezügen zur Geschichte des Nationalsozialismus und Kolonialismus wirft die Frage auf, wie Schulen diesen unterschiedlichen Bezügen im Rahmen der Gestaltung inklusiver und demokratischer Schulkulturen Rechnung tragen können“.
Die Kontinuitäten dieser historischen Ereignisse, die sich u.a. in den rechtsterroristischen Morden der vergangenen Jahrzehnte zeigten, wie in Hanau und durch den sog. NSU, werden im Unterricht häufig nur am Rande behandelt, so Ellen Kollender. Dies trage zur Ausblendung bestimmter Ereignisse und Erfahrungen im erinnerungskulturellen Diskurs von Schule und Gesellschaft bei.
In der Popkultur jedoch finden diese Erinnerung Platz: Der Hip-Hop-Künstler Eko Fresh rappte etwa über den Anschlag auf die Kölner Keupstraße durch den NSU. Doch diese Stimmen haben oft nur begrenzte Reichweite, erklärt Monika Schoop – im öffentlichen Diskurs bleiben sie häufig unterrepräsentiert.
Ähnlich wie Musik nimmt auch die Literatur eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur ein: „Erinnerung lebt vom Erzählen. Postmigrantische Literatur ist mittlerweile auch in den großen Verlagen präsent“, sagt Kevin Drews. „Viele Werke beschäftigen sich mit den Erfahrungen der Elterngeneration. Daraus entstehen neue Perspektiven auf die Geschichte der Bundesrepublik. Erzählt wird zum Beispiel von den entwürdigenden Gesundheitsuntersuchungen bei der Ankunft an den Bahnhöfen oder der provisorischen Unterbringung in Baracken, in denen die Eltern zunächst leben mussten, aber auch von den gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen auf Baustellen und in Fabriken.“
Doch Erinnerung muss nicht ausschließlich mit Schmerz verbunden sein, so die Forscher*innen. Auch positive Erfahrungen des Zusammenlebens und Visionen einer diversen und inklusiven Gesellschaft sind Bestandteil von Erinnerungskulturen. Musik, Literatur und Schule stellen zentrale Arenen dar, in denen vielfältige Perspektiven und neue Ansätze, Erinnerungskulturen machtkritisch zu gestalten, erprobt werden können. Lea Otremba betont: „So besteht die Möglichkeit, den erinnerungskulturellen Kanon zugunsten einer Pluralisierung von Erinnerungskultur demokratisch zu öffnen.“
Das Forschungsprojekt „Zukünfte des Erinnerns in der Postmigrationsgesellschaft“ an der Leuphana Universität Lüneburg wird vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) mit 122.000 Euro gefördert.
Im Rahmen der Auftaktveranstaltung des Projekts, einem öffentlichen Polylog, diskutieren Expert*innen aus Wissenschaft, Zivil- und Stadtgesellschaft über Konflikte, Kontinuitäten und neue Perspektiven für eine zukunftsfähige Erinnerungskultur.
Mit dabei: Cristina Antonelli-Ngameni (AG Migrant:innen Niedersachsen), Rolf Behncke (Geschichtswerkstatt Lüneburg), Dr. Steffi Hobuß (Leuphana), Dr. Thomas Köhn (Leuphana) und Nuria Miralles-Andress (Initiative für Vielfalt und Teilhabe).
Die Veranstaltung findet am 12. November 2025 um 19 Uhr im mosaique (Katzenstraße 1, Lüneburg) statt. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung wird gebeten: https://eveeno.com/222866851