Neu an der Leuphana: Prof. Dr. Sarah Engler

Mehrheit ist nicht alles

16.01.2023 Die Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft untersucht den Einfluss von Parteien auf die Demokratie. Was man aber unter Demokratie versteht, darüber sind sich Parteien wieder vermehrt uneins.

„Sich langfristig als Partei zu etablieren, ist schwierig. Ohne Inhalte geht es nicht – auch dann nicht, wenn die Leute mit der Demokratie unzufrieden sind.“ ©Brinkhoff-Moegenburg/Leuphana
„Sich langfristig als Partei zu etablieren, ist schwierig. Ohne Inhalte geht es nicht – auch dann nicht, wenn die Leute mit der Demokratie unzufrieden sind.“

Während der Corona-Pandemie standen demokratische Politiker*innen vor einem Dilemma: „Grundrechte wie die Bewegungsfreiheit oder das Versammlungsrecht dürfen auch mit einer parlamentarischen Mehrheit nicht eingeschränkt werden“, erklärt Dr. Sarah Engler, die seit diesem Semester die Professur für Vergleichende Politikwissenschaft innehat. Dieses Prinzip ist elementar und schützt in einer Demokratie jene, die nicht an der Macht sind. Es ist dadurch keiner Regierung möglich etwa durch einen Mehrheitsbeschluss dem politischen Gegner das Wahlrecht zu entziehen. „Die Justiz würde sofort einschreiten. Deutschland, zum Beispiel, hat eine vergleichsweise strikte Trennung zwischen der exekutiven und der judikativen Gewalt. Das schützt demokratische Rechte.“

Was passierte während der Corona-Pandemie? „In einer Krisensituation darf man die Rechte einschränken. Während der Pandemie wurde ein höheres Gut geschützt als etwa die Bewegungsfreiheit, nämlich die physische Unversehrtheit der Gesamtbevölkerung. Grundrechtseinschränkungen müssen aber immer proportional zum Risiko und zeitlich befristet sein. Soweit die Theorie, aber zu Beginn der Pandemie wusste niemand, wie groß das Risiko ist“, erklärt die Politikwissenschaftlerin.

„Als Folge haben Staaten und deren Regierungen die Grundrechte unterschiedlich stark eingeschränkt. In Italien und Spanien durfte man das Haus nicht mehr verlassen. In Deutschland konnte man niemanden treffen, in der Schweiz zeitweise vier Menschen. Dort, wo Grundrechte zu normalen Zeiten bereits stark geschützt waren, fielen auch die Einschränkungen während der Pandemie schwächer aus“, erklärt die Forscherin. Beispielsweise schränkte Frankreich die Freiheiten stärker ein als Schweden. In Frankreich gab es bereits vor Corona zur Terrorprävention viele Auflagen.

Ein anderes Beispiel ist Ungarn, das seit 2010 vom rechtspopulistischen Victor Orbàn regiert wird: „Ungarn war schon lange vor der Pandemie auf dem Weg des demokratischen Rückbaus. Unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung hat die Regierung dann sogar die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Es sollten keine Falschmeldungen über die Pandemie verbreitet werden. Dieser Schritt geschah aber ohne zeitliche Begrenzung und ist somit einfach ein weiterer Schritt in Ungarns Weg der Autokratisierung“.

Kritik der Judikative oder der Opposition wiegelt Viktor Orbàn jeweils ab: Er sei gewählt und seine Maßnahmen bildeten die Mehrheitsmeinung ab. Warum werde er jetzt von einem Gericht gestoppt, das nicht gewählt worden sei? „Dieses Argument kommt sehr häufig aus dem rechtspopulistischen Parteienspektrum“, erklärt Sarah Engler. Aber Demokratie sei mehr als nur das Abbilden der Mehrheitsmeinung. „Die Rechte der Regierung müssen beschränkt sein, damit sie ihre Macht nicht missbraucht und zukünftige Machtwechsel weiterhin möglich sind“, erklärt Sarah Engler.

Die Parteienforscherin beschäftigt sich auch mit mittepopulistischen Parteien wie der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, welche häufig in Zeiten großer politischer Unzufriedenheit viele Wählerstimmen gewinnen. Deren Erfolg ist aber häufig nur von kurzer Dauer: „Ähnliche Parteien gibt es beispielsweise auch in Osteuropa. Sie kritisieren die jeweilige Regierung im Land als korrupt oder machtversessen. Selbst haben sie aber häufig kein Programm. Die Wähler*innen der Fünf-Sterne-Bewegung kamen zu Beginn zu jeweils einem Drittel aus dem linken, rechten und mittleren Spektrum. Kommen sie dann an die Macht, verschwinden sie oft nach ein bis zwei Legislaturperioden wieder. Sich langfristig als Partei zu etablieren, ist schwierig. Ohne Inhalte geht es nicht – auch dann nicht, wenn die Leute mit der Demokratie unzufrieden sind.“

Die Politikwissenschaftlerin studierte und promovierte an der Universität Bern. Bis 2018 war Sarah Engler Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Europa und Vergleichende Politik an der Universität Bern. 2017 forschte sie ein Semester lang am European University Institute (EUI), Florenz, Italien. 2019 wurde sie Senior Researcher am Institut für Politikwissenschaft und dem Zentrum für Demokratieforschung, Universität Zürich. Von September 2021 bis August 2022 war sie Gastprofessorin für Direkte Demokratie und Partizipation an der Universität Zürich. Seit September 2022 ist sie Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Leuphana.

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