Neu an der Leuphana: Prof. Dr. Stefan Klingbeil, LL.M. (Yale) – Der Zauber des Rechts
22.10.2025 Die Welt des Rechts ist weder ein graues Reich aus Paragrafen noch eine staubtrockene Bürokratenwelt. Vielmehr handelt es sich um einen wundersamen Ort voller Magie und Zauber. Wir haben mit dem neu berufenen Professor für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht und Rechtstheorie über die besondere Sicht der Juristinnen und Juristen auf die Wirklichkeit gesprochen.

Herr Professor Klingbeil, eine kurze Frage zum Einstieg: Wer bin ich?
Eine sehr schwierige Einstiegsfrage. Aber lassen Sie mich als Rechtswissenschaftler antworten – das macht die Sache etwas einfacher: Aus Sicht der Jurisprudenz sind Sie eine Rechtsperson. Darunter verstehen wir einen Träger von Rechten und Pflichten, der in einem rechtlichen Körper wohnt und im Laufe seines rechtlichen Lebens Rechtspersönlichkeit herausbildet. Wir nennen Menschen zwar natürliche Rechtspersonen. Aber bei genauer Betrachtung sind sie ebenso künstliche Wesen wie die sogenannten juristische Personen – also etwa ein Verein, eine Aktiengesellschaft oder eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Das heißt, alle Rechtspersonen sind Kunstgeschöpfe des Rechts, die durch den in der Sprache des Rechts ablaufenden Rechtsdiskurs geschaffen werden.
Also existiere ich im Recht vorher nicht?
Jedenfalls nicht als Rechtsperson. Als solche existieren Sie erst, wenn das Rechtssystem Sie durch einen juristischen Personifikationsakt ins rechtliche Leben ruft. Das heißt aber nicht, dass Sie als Rechtsperson nur in den Köpfen der Juristen existieren würden. Vielmehr ist das Existenzmedium von Rechtspersonen die Sprache des Rechts, durch welche auch die Rechtswelt erzeugt wird. Dabei sollten wir die Welt des Rechts als eigenständige Seinsebene unserer Lebenswelt begreifen. Sie hat gewissermaßen den ontologischen Status einer Welt 3 im Sinne von Karl Popper. Das heißt, es handelt sich um eine geistige Welt, die künstlich-virtuellen Charakter hat – und trotzdem real ist. Und eben weil es sich bei Rechtswelt um eine sprachlich erzeugte Kunstwelt handelt, können in ihr zauberhafte Dinge passieren.
Wo zeigt sich denn der Zauber des Rechts?
Wenn man durch die Brille des Rechts blickt, zeigt er sich an vielen Stellen. Nehmen Sie ein alltägliches Beispiel: Sie wollen ihre Wand streichen lassen. Damit beauftragen Sie den Malermeister B, der zur Ausführung der Arbeiten seinen Gesellen A schickt. In Ihrer Wohnung angekommen, nimmt der Geselle A sogleich den Pinsel in die Hand und streicht damit die Wand. Doch wie sieht der Vorgang aus, wenn wir ihn durch die Brille des Rechts betrachten? Für die Juristen ist der Geselle A ein sogenannter Erfüllungsgehilfe, der den Malermeister bei der Erfüllung von dessen Vertragspflichten repräsentiert. Richtigerweise heißt das, dass der Geselle A den Meister B für die juristische Betrachtung an Ort und Stelle präsent macht. Juristisch gesehen, ist der Malermeister B also im selben Raum wie der Malergeselle A und schwebt gewissermaßen über ihm.
Aber in der Lebenswelt ist der Meister doch ganz woanders. Vielleicht sitzt er gerade zu Hause, wo er Tee trinkt und Rechnungen schreibt.
In der Tat. Und genau dieses Paradox offenbart das magische Grundprinzip der Repräsentation: Egal, wo der Geschäftsherr in der Lebenswelt gerade ist, für die juristische Betrachtung ist er auch dort, wo sein Repräsentant sich aufhält. Anders gewendet bedeutet das, dass man sich in der Welt des Rechts vervielfachen kann, um an verschiedenen Orten gleichzeitig zu sein. Doch damit ist die Magie noch nicht zu Ende: Wenn wir den Vorgang des Wandstreichens weiter in juristischer Zeitlupe betrachten, dann sehen wir als Nächstes, wie der Pinsel aus der Hand des Malergesellen A in die Hand des Malermeisters B wandert. Vollzieht der Malergeselle A nun mit seiner Hand Streichbewegungen, dann vollzieht in der nächsten juristischen Sekunde die den Pinsel haltende Hand des Malermeisters B entsprechende Bewegungen. Wir rechnen dem Malermeister also sowohl den Besitz an dem Pinsel als auch die Handlungen des Malergesellen zu.
Werden so die Lebensäußerungen des Gesellen zu solchen des Meisters?
Genau, die Zurechnungsverschiebung hat den Effekt, dass für die juristische Betrachtung am Ende der Malermeister die Wand gestrichen und so seine Ihnen gegenüber bestehende Vertragspflicht erfüllt hat. Und wenn der Geselle aus Ungeschicklichkeit eine Ihrer Vasen umstößt, dann rechnen wir dieses schuldhafte Fehlverhalten ebenfalls dem Meister zu. Deshalb haftet er Ihnen für Ihren Schaden nach vertraglichen Grundsätzen. Das ist eine Rechtsfigur, derer sich die heutigen Juristen mit rechtstechnischer Selbstverständlichkeit bedienen. Aber das Zauberhafte dieser Betrachtungsweise wird nur selten betont. Immerhin spricht man mit Blick auf die Stellvertretung bei Rechtsgeschäften häufig und völlig zu Recht von einem juristischen Wunder.
Sollten Juristen denn insgesamt bildhafter denken?
Das wichtigste Werkzeug der modernen Jurisprudenz ist und bleibt die Rechtssprache, über die man in der Vergangenheit viel gesagt und geschrieben hat. Aber nur selten hat man den Versuch unternommen, die Einsicht, dass das Recht seine eigene Sprache spricht, mit der philosophischen Lehre vom welterzeugenden Charakter der Sprache zu verknüpfen. Dadurch aber eröffnet sich ein neuer Blick auf die Dinge. Denn dann wird deutlich, dass wir mit der Rechtssprache eine virtuell-künstliche Welt erzeugen, die zwar für die sinnlichen Augen unsichtbar bleibt, aber vor dem geistigen Auge der Juristen Gestalt annimmt. Und eben an dieser Stelle kommt das Rechtsdenken in Bildern – also die Fähigkeit zur juristischen Imagination – ins Spiel: Juristen müssen vor ihrem inneren Auge die Architektur des Unsichtbaren wahrnehmen können, um die rechtlichen Vorgänge zutreffend zu erfassen. Das bildhafte Rechtsdenken sollte also die Sprache des Rechts ergänzen, indem es gleichsam als Bildschirm für den sprachlichen Code des Rechts fungiert.
Und wie lässt sich die juristische Vorstellungskraft schulen?
In meinen Lehrveranstaltungen verwende ich gerne die Rechtsvisualisierung als methodisches Hilfsmittel zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Das heißt, ich fertige etwa bei der Besprechung von Beispielsfällen juristische Zeichnungen an, welche die rechtlichen Elemente und Strukturen veranschaulichen. So kann man sich die komplexen Vorgänge in der Welt des Rechts deutlich besser vorstellen. Und mein Eindruck ist, dass vielen Studierenden das bildhafte Rechtsdenken beim Verständnis der juristischen Konstruktionen hilft. Weiterhin befasst sich auch mein Kurs „Recht, Imagination und Wirklichkeit“ mit der juristischen Vorstellungswelt. Hier beschäftigen wir uns etwa mit der Lehre von den zwei Körpern des Königs, mit dem Kunstmärchen „Des Kaisers neue Kleider“ und mit dem Titelbild von Hobbes‘ „Leviathan“. Auch das fördert die juristische Vorstellungskraft.
Warum haben Sie sich für die Leuphana entschieden?
Ich finde es sehr reizvoll, in Lüneburg die Zukunft der juristischen Ausbildung in unserem innovativen Modellstudiengang „Master Rechtswissenschaft“ mitzugestalten. Die Aufbruchstimmung ist in dem jungen Kollegium der Law School jeden Tag zu spüren. Und auch der Campus ist ein vibrierender Ort persönlicher Begegnungen, an dem der fachübergreifende Austausch gelebte Kultur ist. Nicht zuletzt haben wir an der Leuphana sehr motivierte und begeisterungsfähige Studierende. Auch deshalb ist es eine große Freude, hier zu lehren und zu forschen.
Stefan Klingbeil studierte Jura an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und absolvierte anschließend das Referendariat am Oberlandesgericht Hamburg. Es folgten ein Masterstudium an der Yale Law School sowie im Jahr 2017 die Promotion. Im Jahr 2023 habilitierte er sich an der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit einer von Prof. Dr. Felix Maultzsch, LL.M. (NYU) betreuten Arbeit zum Zusammenspiel von Privat- und Prozessrecht. Er erhielt die Venia Legendi für die Fächer Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Zivilverfahrensrecht, Rechtstheorie und Rechtsvergleichung. Nach Lehrstuhlvertretungen in Lüneburg und Frankfurt wurde er im Oktober 2024 auf die Professur für Bürgerliches Recht und Zivilverfahrensrecht an der Leuphana Universität Lüneburg berufen. Im Januar 2025 lehnte er einen Ruf auf die W3-Professur für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht der Ruhr-Universität Bochum ab.
Kontakt
- Prof. Dr. Stefan Klingbeil, LL.M. (Yale)