Geschichte der Pandemien: „Obrigkeitstreue wird zur Tugend“

10.02.2021 Der Wissenschaftshistoriker Prof. Dr. Andreas Bernard forscht zur Verbindung von medizinischem Wissen und Datenorganisation seit dem Aufkommen erster Impfungen. Beim Quellenstudium traf er auf alte Bekannte.

Der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard in seinem Büro ©Leuphana
Der Umgang mit einer Pandemie habe auch immer eine politische und ideologische Seite, erklärt Prof. Andreas Bernhard im Interview.
Das Corona-Virus hat eine Größe im Nanometer-Bereich und ist für das menschliche Auge unsichtbar. Wie gehen Menschen mit dieser unsichtbaren Gefahr um?
Es gibt die Faktizität der Schädigung durch das Virus: Menschen werden krank, leiden oder sterben sogar. Aber diese Faktizität hat keinen klaren Ursprung. Vergleichen Sie das Virus mit einem Verbrecher: Durch beide können Menschen sterben. Aber der Verbrecher hat ein Motiv und wir können ihn sehen. Ein Virus ist ein Wesen ohne Intention. Das löst bei den Menschen Unbehagen aus.
Das Virus bleibt also für uns genauso abstrakt wie für Menschen vor 300 Jahren?
Die Vorstellung von Ansteckung hat eine Geschichte: Bis etwa 1870 war die Idee einer Übertragung von Mensch zu Mensch umstritten und wurde von der Medizin immer wieder über lange Zeiträume verworfen. Vielmehr glaubte man an so genannte Miasmen, also örtlich begrenzte Infektionsherde. Man stellte sich vor, dass dort alle Menschen krank werden, etwa in Armenvierteln mit schlechten hygienischen Bedingungen. Wir haben heute ganz selbstverständlich die Vorstellung von einem Virus, das sich durch Niesen und Husten überträgt. Die Forschungen Louis Pasteurs oder die Entdeckung des Tuberkulose-Erregers durch Robert Koch waren ein Meilenstein beim Verständnis einer Übertragung von Mensch zu Mensch. Wissenschaftshistorisch betrachtet ist dieses Denken also noch recht jung.
Wie hat die Corona-Pandemie unsere Vorstellungen verändert?
Epidemien lösen beispielsweise immer neue Erfassungsmodelle aus. Das führt zu technischer Innovation. Auch während der Corona-Pandemie hat sich die Einstellung der Menschen zur Datenerfassung verändert. Die Angst wurde neu definiert. Eine Anwendung wie die Corona-Warn-App wäre vor einigen Jahren in Deutschland sicher noch undenkbar gewesen. In den vergangenen Monaten hat sich vieles elementar verändert.
Sie beschäftigen sich mit einem Zeitraum von etwa 300 Jahren. Was hat Sie besonders überrascht?
Zum Beispiel die Kontinuität der Ereignisse in manchen Fragen: Die Impfgegnerschaft ist beispielsweise schon sehr alt. Pocken-Impfstoffe gelten als die ältesten Vakzine. Die ersten Schutzimpfungen gegen die Pocken im frühen 18. Jahrhundert wurden gerade von Klerikern abgelehnt: Die Impfung stünde im Widerspruch zur göttlichen Vorsehung. 1874 wurde in Deutschland eine nationale Impflicht gegen Pocken eingeführt. Lebensreformerische Strömungen dieser Zeit lehnten die Impfungen als künstlich ab. Der Körper könne sich selbst heilen. „Querdenker“ sind also kein Phänomen des 21. Jahrhunderts.
Vorurteile leider auch nicht. Gerade zu Beginn der Corona-Pandemie klagten Menschen mit asiatischem Phänotyp vermehrt über Anfeindungen.
Das xenophobe Narrativ der eingeschleppten Seuche ist ein Teil der Geschichte: Robert Kochs Denken war beispielsweise stark nationalistisch geprägt, und er sagte gerne über die Cholera oder die Pocken: „Die Seuchen kommen vom Osten.“ 2019/2020 erlebten wir eine China-Kritik mit dem Unterton: „Die Bedrohung wurde von den Chinesen nicht ernst genommen. Wirtschaft war dort wichtiger als Gesundheit, und die hygienischen Bedingungen auf den Märkten lassen womöglich zu wünschen übrig.“ Das ist ein ganz altes Modell der epidemiologischen Fremdenfeindlichkeit. Doch irgendwann drehte sich das Narrativ, und der Ruf nach strengeren Regeln bestimmte die Debatte um Corona - selbst bei der linksliberalen Presse. Überraschenderweise wird die sogenannte Zero-Covid-Strategie besonders oft von Menschen unterstützt, die sich eher als links einschätzen. Obrigkeitstreue wird plötzlich zur Tugend. Umgang mit einer Pandemie hat also auch immer eine politische und ideologische Seite. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Zeit des Kalten Kriegs verkaufte etwa die UdSSR einen guten Umgang mit Epidemien als einen Erfolg des Sozialismus. Ein Slogan der DDR-Führung lautete beispielsweise: „Sozialismus ist die beste Prophylaxe.“ Politiker argumentierten: Der Westen sei zu individualistisch, deswegen würden sich Menschen dort häufiger anstecken. Pandemien sind auch ein Lackmus-Test für politische Programme.
Ein besonders prägnantes Beispiel im Zusammenhang mit Vorurteilen ist AIDS/HIV.
Beim HI-Virus erfolgt die Übertragung fast immer über einen intimen Kontakt, ähnlich wie bei der jahrhundertealten Krankheit Syphilis. Corona wird viel flüchtiger übertragen. Am Ende weiß ich oft nicht, wo ich mich angesteckt habe - im Bus oder vielleicht im Supermarkt. Die unterschiedlichen Infektionswege sorgen für eine strukturelle Differenzierung. Gerade beim HI-Virus herrschte zunächst große Unsicherheit, wie die Übertragung funktioniert. Anfang der 1980er Jahre zirkulierten hysterische Theorien: Wenn man nur mit einem homosexuellen Mann im gleichen Raum war, galt man praktisch schon als tot. Erst wenn die Medizin die Krankheit im Griff hat, wird eine symbolisch aufgeladene Seuche zu einer buchstäblichen, und die kruden Narrative schwächen sich ab. Das kann man auch gut am Beispiel der Pocken sehen: Diese Seuche galt 1980 als weltweit ausgerottet. Aber erst da endeten auch die Spekulationen. Gleichzeitig kam AIDS/HIV auf. Manchmal frage ich mich, was gewesen wäre, wenn es vor vierzig Jahren schon Soziale Medien gegeben hätte. Aber eigentlich möchte ich es mir gar nicht vorstellen. Denn die Medien-Situation ist natürlich auch dafür verantwortlich, ob und wie die Welt während einer Pandemie aus den Fugen zu geraten droht.
 
Vielen Dank für das Gespräch!