Diversity Tag 2023: Naturwissenschaften inklusiv

23.05.2023 Die Naturwissenschaftsdidaktikerin Prof. Dr. Simone Abels möchte einen Unterricht, der Stärken fördert und nicht Schwächen unterstreicht. Sie zweifelt am aktuellen Unterrichtskonzept der Diagnostik und Differenzierung und etabliert gemeinsam mit Lehramtsstudierenden ein neues Denken.

Diversity Tag 2023: Naturwissenschaften inklusiv ©Leuphana / Ciara Charlotte Burgess
Diversity Tag 2023: Naturwissenschaften inklusiv ©Leuphana / Ciara Charlotte Burgess
Diversity Tag 2023: Naturwissenschaften inklusiv ©Leuphana / Ciara Charlotte Burgess
Frau Professorin Abels, Sie denken Inklusion sehr breit und wollen mit Ihrem Konzept Schüler*innen mit verschiedenen Förderbedarfen ansprechen – von körperlichen Einschränkungen über emotionale Defizite bis zu sprachlichen Barrieren.
Simone Abels: Genau genommen wollen wir alle Schüler*innen ansprechen, ohne auf ihre Defizite zu schauen. Kategorisierungen vermeiden wir wenn möglich. Zwar können Kategorien helfen, Sachverhalte zu verstehen und Fördermaßnahmen zu entwickeln, aber wir denken dadurch auch schnell in Schubladen. Die Schwierigkeit: Wenn jemand erstmal in einer Schublade steckt, kommt die Person schwer wieder heraus. Zum anderen sehen wir, wie überfordernd die Situation für Lehrkräfte oft ist. Es wird die Idee eines inklusiven Unterrichts verbreitet, nach der der Unterricht für einzelne Schüler*innen individualisiert und differenziert ist: Erst wenn ich auf Basis einer umfassenden Diagnostik die individuellen Lernvoraussetzungen kenne, kann ich eigentlich guten Unterricht machen. Das endet im Extremfall mit zig individualisierten Arbeitsblättern.
Wir vertreten eine andere These: Wir schauen uns nicht vermeintliche Defizite der Schüler*innen an, sondern die Barrieren des Gegenstands. Was macht Naturwissenschaften schwierig? Wo sind sie zu abstrakt? Wo kann ich den Nawi-Unterricht mehr in die Lebenswelt meiner Klasse rücken? Wie begeistere ich, statt den Schüler*innen zu sagen: „Ihr habt das Säure-Base-Konzept immer noch nicht verstanden.“
Ausgerechnet Chemie, Physik und Biologie gelten als vorbereitungsintensiv. Sind diese Fächer überhaupt für einen inklusiven Unterricht geeignet?
Ein Naturwissenschaftsunterricht mit modernen und anschlussfähigen Themen aus Bereichen wie Umwelt, Ernährung oder Energie kann ganz viele Schüler*innen abholen. Fange ich im Unterricht erstmal mit den klassischen fachlichen Konzepten an, habe ich oft schon zu Beginn der Stunde einen Großteil der Schüler*innen verloren. Wenn ich aber frage: Woraus besteht eigentlich der angesagte Energy Drink oder wie nachhaltig ist ein E-Auto tatsächlich? Dann kann ich den Schüler*innen eher die Relevanz der zugrundeliegenden fachlichen Konzepte verdeutlichen. Wir können im Nawi-Unterricht handlungsorientiert und anschaulich arbeiten. Wir können medial sehr vielfältig arbeiten. Vom ganz konkreten haptischen Wahrnehmen bis hin zum ganz abstrakten Modelldenken verfügen wir über eine große Bandbreite. Das macht die Naturwissenschaften sehr geeignet für Inklusion.
Wie lässt sich dieses Konzept praktisch umsetzen?
In unserer Leuphana Lernwerkstatt arbeiten wir beispielsweise mit Lernlandschaften: Die Schüler*innen finden auf Tischen unterschiedliche Lernangebote, die sie dann einzeln oder in einer Gruppe bearbeiten. Wir lassen den Schüler*innen sehr viel Freiheit ohne sie allein zu lassen. Bei einem Thementisch zu Bienen wollte eine Gruppe beispielsweise eine*n Imker*in interviewen, andere wollten den Zuckergehalt des Honigs analysieren. Die Teams können hinterher ihre Erkenntnisse austauschen. Wir Lehrenden schauen, welche Barrieren der Gegenstand aufweist: Gibt es beispielsweise motorische, konzeptionelle, prozessuale, sicherheitstechnische Herausforderungen? Hierzu halten wir ggf. vorbereitete Unterstützungsmaterialien bereit oder gehen in die Lernbegleitung, damit alle Schüler*innen einen Zugang zum Lernen finden. Zudem können Schüler*innen wählen, ob sie z.B. ein Protokoll in Form einer Audio-Datei diktieren, ein Erklärvideo oder eine Fotostory erstellen, zeichnen oder schreiben. Wir möchten die Schüler*innen unterstützen, an ihren Stärken zu arbeiten und sie nicht darauf hinweisen, was sie nicht können.
Studierende haben die Möglichkeit zu lernen, wie sie solche Konzepte mit Schüler*innen umsetzen können und wie sie den Lernprozess begleiten. Wir hoffen umgekehrt, dass die Lehrpersonen, die mit ihren Schulklassen zu uns kommen, etwas davon mit in ihren Unterricht nehmen, wenn sie ihre Schüler*innen in unserem Lernkontext anders erleben.
Bildungsstandards und Leistungsmessung legen aber auch fachliche Defizite der Schüler*innen offen.
Ich fürchte, die Bewegung zur Standardisierung hat uns fehlgeleitet. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass alle Menschen am Ende das gleiche können. Das ist in meinen Augen absolut unrealistisch. Die Standards wurden eigentlich entwickelt, um die Qualität unseres Bildungssystems zu überprüfen. Es kann also maximal um die Defizite des Systems gehen. Aber gedeutet wird, was einzelne Schüler*innen können oder auch nicht. Dadurch sortieren wir aber Menschen aus. Was machen wir dann mit den Menschen, die selbst Minimalstandards verfehlen? Wir sollten besser herausfinden, wo die Stärken unserer Schüler*innen liegen. Dann verlassen Menschen mit vielfältigen Fähigkeiten unser Schulsystem. Der inklusive Naturwissenschaftsunterricht versucht alle zu fördern und zu motivieren und damit auch diejenigen, die Lust haben später einen naturwissenschaftlichen Beruf zu ergreifen. Wäre es nicht furchtbar, wenn wir am Ende alle die gleichen Interessen und Fähigkeiten hätten? So funktioniert die Welt nicht – und Schule auch nicht.

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  • Prof. Dr. Simone Abels