„Eltern mehr abholen“ Podiumsdiskussion der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik

15.03.2021 Aktuell stellen die Pandemie und die zunehmende Digitalisierung die Zivilgesellschaft vor enorme Herausforderungen. Wie kann der (digitale) Mathematikunterricht dazu beitragen, verantwortungsbewusste und gestaltungsfähige Akteure auszubilden, die diesen Herausforderungen begegnen können? Wie steht es um Forschung und Lehre in Zeiten von Corona? Diesen Fragen widmeten sich die Teilnehmer*innen auf dem Podium des 1. Online-Tagungsmonats der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik.

Mathematikdidaktik ©Marvin Sokolis
Mathematikdidaktik ©Marvin Sokolis
Mathematikdidaktik ©Marvin Sokolis

Rund 400 Expert*innen der Mathematikdidaktik präsentieren und diskutieren ihre Erkenntnisse unter dem Motto „Perspektiven wechseln“ den gesamten März über in verschiedenen Formaten. Ausgerichtet wird die Tagung, in deren Mittelpunkt zwei Kerntage mit fünf Hauptvorträgen und der Podiumsdiskussion standen, von Cathleen Heil sowie Silke Ruwisch, Professorin für Mathematik und ihre Didaktik. Der Tagungsmonat wurde vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur unterstützt.

Die Podiumsdiskussion am 10. März griff das Tagungsmotto „Perspektiven wechseln“ auf und fokussierte Fragen der Digitalisierung. Neben Maike Schindler, Professorin für Sonderpädagogik im Handlungsbereich Mathematik (Uni Köln) und Kathrin Padberg-Gehle, Professorin für Angewandte Mathematik (Leuphana) war Stefan Ufer, Professor für Didaktik der Mathematik (LMU) auf dem Podium. Es moderierte Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Deutschen Telekom Stiftung.

Das Podium war sich einig, dass Mathematiklehrkräfte mit viel Engagement, Kreativität und innovativen Lehr-Tools auf den neuen Schulalltag reagiert hätten, jedoch vieles noch eher als provisorisch einzuordnen sei. Padberg-Gehle wies darauf hin, wie viele Endgeräte Eltern momentan vorhalten müssten, damit Kinder am Unterricht teilnehmen können. Die Vielfalt an verschiedenen Lernsystemen, die oft auch innerhalb einer einzigen Klasse gleichzeitig genutzt werden, mache es zusätzlich schwierig. „Microsoft Teams, IServ, Zoom und noch mehr. Manchmal ist es für Eltern und Kinder deutlich einfacher, wenn einfach Aufgabenzettel herumgemailt werden.“ Schindler ergänzte, dass zwar fast alle Schüler*innen ein Mobiltelefon hätten, aber nicht alle einen Computer oder einen Drucker zu Hause. Viele gute Lehrkonzepte gingen somit an einem Teil der Kinder und Jugendlichen völlig vorbei. Erst recht benachteiligt seien Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf. Differenziertes Eingehen auf die verschiedenen Bedürfnisse der Schülerinnen bei inklusivem Unterricht fände digital so gut wie nicht statt. Ufer argumentierte: „Damit digitales Lernen funktioniert, braucht es Eltern, die ihren Kindern motivationale Unterstützung geben. Darauf zuzuarbeiten ist eine Herausforderung sowohl für die Lehrkräfte als auch für die Eltern. Man muss die Eltern deutlich mehr abholen, unterstützen, begleiten.“

Winter bedauerte, dass es bislang noch fast keine belastbaren empirischen Daten zu digitalem Mathematikunterricht gibt. Es wurden allerdings erste Umfragen durchgeführt. Diese zeigten, dass die Mathematik-Lernzeit von Schüler*innen sich seit Beginn der Pandemie ungefähr halbiert hat. „Das ist ein Riesenproblem, da die Lernzeit zusammen mit dem Vorwissen der wichtigste Indikator für Lernerfolg ist“, kommentierte Ufer. Schindler ergänzte, dass die verbliebene Lernzeit anders genutzt werde als es vor März 2020 der Fall war. Im Distanzlernen spielten eher prozedurale als konzeptionelle Aufgaben eine Rolle. Der momentane digitale Mathematikunterricht lasse wenig Raum für Anwenden oder Problemlösen. Sprache spiele im Mathematikunterricht eine große Rolle, ebenso kreativ-konzeptionelle Prozesse wie das Aufbauen von Vorstellungen und Entdeckungslust. „Diese Facetten vom Mathematiklernen sind aktuell schwierig zu organisieren."

Ganz anders sähe es bei der mathematikdidaktischen Lehre an Hochschulen aus. Das Podium stimmte überein, dass hier der Übergang auf Online-Formate im Großen und Ganzen problemlos geklappt habe. Dabei änderte sich in den letzten Wochen das von den Studierenden präferierte Lehrmedium. „Am Anfang fanden Studierende Videos und besprochene PowerPoint-Präsentationen am besten. Mittlerweile bevorzugen sie synchrone Formate, die live durchgeführt werden“, sagte Padberg-Gehle. Dies läge möglicherweise daran, dass Live-Lehre ein Strukturierungsangebot im ansonsten viel Selbstdisziplin erfordernden Corona-Alltag darstelle. Dafür spräche auch, dass die Teilnahmequote an Lehrveranstaltungen kontinuierlich hoch sei. Ufer ergänzte, dass sich bei Online-Lehre auch die bisherige Rolle der Lehrenden wandle: „Manchmal entsteht eine Kompetenz-Illusion dadurch, dass man denkt, ‚ich war ja da, irgendwas wird schon hängen geblieben sein‘. Mir ist als Lehrendem die Frage wichtig ‚Wofür brauchen die mich? Brauchen die mich um etwas zu erklären oder als Ansprechpartner für Fragen?‘ Es gibt im E-Learning deutlich mehr Varianz in dem, wie teacher presence eingesetzt werden sollte.“

Wie steht es um wissenschaftliche Konferenzen während der Pandemie? E-Konferenzen sparen Reisekosten und -abgase, senken die Teilnahmehürden und garantieren – zeige die bisherige Erfahrung – verlässlich den Wissenstransfer. Was wäre also, fragten die Diskutant*innen, ein Aspekt von Präsenz-Konferenzen, der wichtig war und kaum oder nicht digital abgebildet werden kann? Es sei die Vernetzung. Eine Schlüsselfunktion von Konferenzen läge darin, dass Wissenschaftler*innen einander kennenlernten, inspirierten und sich verbündeten. Das sei digital deutlich schwieriger, insbesondere für den Nachwuchs. Winter schlug als eine Lösung vor: „Bei Konferenzen in Präsenz stehen die etablierten Wissenschaftler*innen im Vordergrund und der Nachwuchs an den Rändern. Diese Struktur müsste man bei Online-Konferenzen umdrehen: Die Etablierten sind ja sowieso vernetzt, daher sollten digitale Formate um den Nachwuchs herum organisiert sein.“

Silke Ruwisch, Leiterin der GDM-Monats ist zufrieden: „‘Perspektiven wechseln‘ war ein gut gewähltes Motto für die Veranstaltung. Die einzelnen Minisymposien und Events bestätigen das. So entstand und entsteht noch hinreichend Raum für die vielfältigen Veränderungen, denen sich der aktuelle Mathematikunterricht  gegenüber sieht: Sprache findet mehr Berücksichtigung, etwa durch die Frage, wie mathematisches Lernen für Nicht-Muttersprachlerinnen gestaltet werden kann. Inklusive Lernsettings, vom Elementar- bis zum Hochschulbereich, in denen Lernende an einem gemeinsamen Gegenstand aber auf unterschiedlichen Niveaus arbeiten, und neue Methoden wie z.B. das Eye Tracking werden für das Erforschen des Mathematiklernens erschlossen.“