Müssen wir uns wandeln? Innere Entwicklung für eine nachhaltige Welt

Warum Schuldgefühle nicht das Klima retten und welche Fähigkeiten Führungspersönlichkeiten von morgen brauchen

16.08.2022 Dr. Maria von Salisch ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie interessiert vor allem für die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, denn sie sei „sehr schnell, geradezu rasant“. Entwicklungspsychologie erforscht die Veränderungen menschlichen Erlebens und Verhaltens über ihr ganzes Leben.

Prof. Dr. Maria von Salisch ©Marvin Sokolis
Prof. Dr. Maria von Salisch
Kürzlich haben rund 262.000 Schüler*innen in Deutschland die Hochschulreife erreicht – in einer Zeit voller Nachhaltigkeitskrisen. Inwiefern verändert das den Anspruch an Bildung?
Bildungsinstitutionen müssen auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Junge Menschen kämpfen ohnehin mit vielen Unsicherheiten, weil sie vor großen Entwicklungsaufgaben stehen: Karrierewahl, romantische Beziehungen, … Sie müssen erwachsen werden.
Ausgerechnet junge Menschen sind nun von Nachhaltigkeitskrisen besonders betroffen, weil diese ihnen Chancen nehmen und ihre Träume gefährden. Die Sorgen um den Zustand der Welt intensivieren sich, wenn sich der Blick weitet. Deshalb entwickeln sie in diesem Alter auch verstärkt politische Positionen und ein Gefühl der Verantwortung für die persönliche und die gesellschaftliche Zukunft.
Hatten nicht alle Generationen Krisen zu bewältigen?
Ja, alle Generationen hatten Krisen zu bewältigen: eine sich verändernde Welt. Zurzeit verändert sich die Welt jedoch sehr schnell. Keine Generation stand bisher vor einer Krise in einem solch globalen Ausmaß, einer Krise, die die ganze Menschheit bedroht. 
Junge Generationen sind stärker von den Folgen der Klimakrise betroffen. Das zeigen zum Beispiel die interaktiven Prognosen von https://myclimatefuture.info. Demnach werden 18-Jährige aus Europa in einer 1,5°C-Welt die zwölffache Zunahme von Hitzewellen erleben, im Vergleich zu Menschen, die 1960 geboren wurden. Viele fühlen sich deshalb überfordert, ängstlich, wütend oder traurig.
Ja, das nennen wir Klima-Disstress. Die Krise scheint eine Dynamik zu entwickeln, die kaum aufhaltbar ist, und wenn doch, dann von Menschen in der Politik, in Unternehmen und der Gesellschaft, die oft viel zu zögerlich oder gar nicht handeln.
Hinzu kommen Schuld- und Schamgefühle, wenn unser Fußabdruck größer ist als gewünscht. Wir als globaler Norden sind Hauptverursacher der Emissionen. Unsere Konsumgewohnheiten tragen dazu bei. Hier ist Selbstakzeptanz wichtig. Zum Beispiel: Ich kaufe mein Shampoo zwar noch in Plastikflaschen, aber das ist okay, weil ich nur eine Gewohnheit nach der anderen ändern kann.
Aber es ist nicht okay, oder?!
Es geht um Akzeptanz der eigenen Person: die Schuldgefühle zu erkennen, sie aber auch wieder loszulassen. Wer sich vor allem persönlich schuldig fühlt, reibt sich auf und kann Herausforderungen nicht mehr bewältigen. Das ist das Problem: Die Krisen sind nicht morgen vorbei. Wichtig ist, die eigene Beteiligung zu erkennen, aber langfristig handlungsfähig zu bleiben, sowohl individuell wie auch gemeinschaftlich.
Die Welt retten, indem wir sie in ihrer Un-Nachhaltigkeit akzeptieren – widerspricht sich das nicht?
Wir akzeptieren nicht die Welt, sondern unser Verhalten, weil wir das nur langsam wandeln können, wenn der Wandel dauerhaft sein soll. In einer Konsumgesellschaft warten die Verlockungen an allen Ecken. Da sollten wir uns nicht zu viel zumuten. Stattdessen können wir uns spielerisch herausfordern, Schritt für Schritt.
Der Weltklimarat IPCC fast zusammen, dass die Begrenzung der Klimakrise auf 1,5°C „sofort schnelle und starke“ Emissionsminderungen braucht. Wir haben scheinbar keine Zeit für langsamen Wandel. Welche Fähigkeiten sind nun entscheidend?
Forscher*innen haben die Inner Development Goals erarbeitet, mit denen wir den Sustainable Development Goals näherkommen können. Dafür haben sie über 800 Weiterbildungs- und Umweltexpert*innen aus Europa und Nordamerika befragt. Das neue Modell listet die wichtigsten Fähigkeiten für Führungspersonal im 21. Jahrhundert auf. Der Rahmen besteht aus 5 Kategorien, die 23 Qualitäten für inneres Wachstum organisieren. Dazu zählen:
Das Sein in Beziehung zu uns selbst, also Selbstbewusstheit, Neugierde und ein innerer Kompass.
Das Denken, also Sinn zu konstruieren in einer komplexen Welt voller Widersprüche.
Verbundenheit mit anderen Menschen durch Wertschätzung und Empathie für sie.
Zusammenarbeit durch Kommunikation, Mobilisierung und Vertrauen.
Das Handeln mit Mut, Optimismus und Hartnäckigkeit.

Dank dieser Kombination sollten wir Krisen mindern und meistern können.
Das sind bekannte Soft Skills. Was ist neu daran?
Die Zusammenstellung. Sie umfasst individuelle und gemeinschaftliche Elemente, kognitive, emotionale, soziale und – ähnlich wie Achtsamkeit – auch moralische Komponenten. Sie alle beeinflussen einander. Natürlich könnte man das Modell dafür kritisieren, dass es wenig theoretisch fundiert ist und dass es vornehmlich von Menschen aus westlichen Industrienationen entwickelt wurde.
Wie können wir sie in unserem Alltag lernen?
Neben dem Studium die Persönlichkeit zu entwickeln, ist wichtig, weil viele Absolvent*innen anschließend Führungspositionen einnehmen. Erleben Sie sich selbst; probieren Sie Neues aus. Wie schaffe ich es, meine Haare einen Monat lang mit festem Shampoo zu waschen, eine Woche lang fleischfrei zu leben, die Heizung auf 19 Grad zu lassen, selbst im Winter? Dann können Sie später sagen: Das war für mich auch schwierig! Das ist authentisch und überzeugt mehr als: Du musst jetzt!
Jede und jeder wird gebraucht. Studierende können Konzerte organisieren, einen Waldgarten pflegen oder Benachteiligten helfen. So lernen sie, ihre Visionen mit Gleichgesinnten zu verwirklichen, Rückschläge zu verkraften und Erfolge zu feiern! Hochschulen können studentische Initiativen und Praxisprojekte fördern, aber auch Kurse für Schlüsselkompetenzen und Achtsamkeit anbieten. Und komplexes Denken wird im Lehrplan gefördert.
Was wenn mein Studienfach nicht so interdisziplinär ist?
Dann können Sie das einfordern: Wir wollen unser Fach aus einem Blick der Nachhaltigkeit betrachten! Aber: Hochschulen können Nachhaltigkeit zwar in Modulhandbücher schreiben, sie müssen jedoch auch die innere Entwicklung fördern, zum Beispiel in einem zweiten, sozialen Lehrplan. Angesichts der Herausforderungen der Zukunft, ist eine solche Ausbildung auch im Sinne der Hochschulen. Fragen Sie kollektiv: Was ist uns wichtig? Das festigt den inneren Kompass!