Der Angriffskrieg auf die Ukraine im Lichte des Völkerrechts

Ein Jahr nach Kriegsbeginn

24.02.2023 Anlässlich des Beginns des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine vor einem Jahr hat Prof. Dr. Jörg-Philipp Terhechte in einem Interview zu einigen völkerrechtlichen Fragen Stellung genommen.

„Dem Völkerrecht wird nachgesagt, dass es an Durchsetzungsschwäche leidet. Tatsächlich hat sich aber in den letzten Jahren gezeigt, dass die völkerrechtlichen Regeln im Großen und Ganzen eingehalten werden“, sagt Prof. Jörg Terhechte. ©Leuphana/Patrizia Jäger
„Dem Völkerrecht wird nachgesagt, dass es an Durchsetzungsschwäche leidet. Tatsächlich hat sich aber in den letzten Jahren gezeigt, dass die völkerrechtlichen Regeln im Großen und Ganzen eingehalten werden“, sagt Prof. Jörg Terhechte.
Machen „Leopard“-Panzer Deutschland aus völkerrechtlicher Sicht zur Kriegspartei? Wären „Eurofighter“ die rote Linie, das Trainieren ukrainischer Piloten oder erst die direkte Beteiligung deutscher Soldaten an Kämpfen?
Es gibt keine abschließende völkerrechtliche Definition des Begriffs „Kriegspartei“; der Begriff führt sowieso in die Irre, weil man dazu in Russland andere Vorstellungen hat als wir. Entscheidend ist, ob deutsche Streitkräfte aktiv im Spiel sind oder nicht. Die direkte Beteiligung von deutschen Soldatinnen und Soldaten kommt aus meiner Sicht aber rechtlich nicht in Betracht – weder hat Russland deutsches Territorium angegriffen noch liegt ein NATO-Bündnisfall vor. Bei den sogenannten Waffenlieferungen sehe ich kein völkerrechtlich bedenkliches Engagement der Bundesregierung, unabhängig davon, ob es um Flugzeuge oder Panzer geht – das sind letztlich Unterstützungsleistungen.
Haben die Anschlussreferenden in der Ost-Ukraine sowie der Annexion der Krim eine völkerrechtliche Gültigkeit?
Dabei handelte es sich aus meiner Sicht um „Scheinreferenden“, die völkerrechtlich keine Verbindlichkeit beanspruchen können. Es handelt sich in diesen Fällen vielmehr um rechtswidrige Annexionen durch Russland. Dies hat auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit riesiger Mehrheit bestätigt.
Welche Chancen sehen Sie für die Zukunft, Putin und andere russische Entscheider bzw. Täter wegen Kriegsverbrechen anzuklagen? Und falls ja, vor welchem Tribunal?
Auch wenn ein solcher Schritt sicher zu begrüßen wäre, ist es doch unwahrscheinlich, das es zu einer strafrechtlichen Verurteilung des russischen Präsidenten kommen wird. Das gilt letztlich auch für andere „Entscheider“. Russland ist nie Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes geworden und auch nicht die Ukraine. Zwar ermittelt der Chefankläger des Internationalen Gerichtshofes aufgrund einer sogenannten ad hoc-Anerkennung der Zuständigkeit seitens der Ukraine schon seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, ob es zu Kriegsverbrechen im Sinne des sogenannten Römischen Statuts gekommen ist. Was letztlich dabei herauskommt, bleibt aber abzuwarten, auch weil die ukrainischen Gerichte ebenfalls zuständig sind. Ob es zu einer Einrichtung eines Sondertribunals kommt, ist unwahrscheinlich, auch weil es in vielen Staaten der Welt nicht eine so klare Positionierung zum russischen Angriffskrieg gibt wie etwa in Deutschland oder in der EU.
Verliert das Völkerrecht an Bedeutung, weil es von Autokraten missachtet und angesichts der Gegensätze im UN-Sicherheitsrat nicht durchgesetzt wird?
Dem Völkerrecht wird immer wieder nachgesagt, dass es an einer Durchsetzungsschwäche leidet. Tatsächlich hat sich aber gerade in den letzten Jahren gezeigt, dass die völkerrechtlichen Regeln im Großen und Ganzen eingehalten werden. Natürlich erschüttert ein rechtswidriger Angriffskrieg diesen Ansatz, er steht aber nicht für die zu beobachtende Entwicklung. Zugleich mahnen die Entwicklungen uns dazu, dass es notwendig ist, für eine regelbasierte internationale Ordnung einzustehen.

Das Interview mit Jörg-Philipp Terhechte, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht sowie Kartell- und Regulierungsrecht erschien am 24. Februar 2023 in der Landeszeitung für die Lüneburger Heide. Die Fragen stellte der LZ-Redakteur Joachim Zießler.

Hier finden Sie eine Solidaritätserklärung mit der Ukraine und Informationen zu den Angeboten der Leuphana für Menschen aus der Ukraine. #standwithukraine