Eis bindet Werkstücke

28.06.2023 Verschiedene Materialien haften nicht einfach aneinander. Das ist für die industrielle Fertigung wichtig, die Leuphana-Forschung entwickelt dazu ein Hilfsmittel.

Paolo Mercorelli
Mercorelli Bild 1 ©Leuphana/Patrizia Jäger
Mercorelli 2 ©Leuphana/Patrizia Jäger
Bild 3 Mercorelli ©Leuphana/Patrizia Jäger

Von Felix van Rossum, Benedikt Haus, Alexandra Mironova, Andreas Zedler, Harald Aschemann und Paolo Mercorelli

Die Verbindung zwischen einem Werkzeug und Werkstück, dem zu verarbeitenden Material, ist komplex. Aufgrund der hohen Qualitätsanforderungen spielen hierzu erforderliche Spannmittel in industriellen Bearbeitungsprozessen eine wichtige Rolle. Insbesondere dünnwandige und zerbrechliche Teile in der Mikrofertigung, aber auch frei und unregelmäßig geformte Werkstücke in der Makrofertigung sind schwer einzuspannen. Um diese Herausforderungen zu meistern, wird in einem Forschungsprojekt an der Leuphana Universität Lüneburg in Kooperation mit der Universität Rostock eine innovative phasenwechselnde und adhäsive Spanntechnik untersucht: das Spannen mit Eis. Darin liegt ein Beitrag für eine nachhaltige Produktionstechnik.

Das Spannen mittels Adhäsionskräften – das ist das Haften verschiedener Körper aneinander – bringt gefrorenes Wasser ins Spiel. Auf der Basis von elektrothermischen Wandlern, sogenannten Peltier-Elementen, stellt es eine nachhaltige und flexible Spanntechnik dar und ermöglicht nahezu verformungsfreies Spannen. Das gilt sogar für grundsätzlich schwer zu spannende Werkstücke. Dieser fortschrittliche Ansatz stellt die Grundlage für einen neuartigen Fräsprozess dar.

Haftkraft des Eises hält stand

Die Forschung hierzu hat noch einiges vor sich. Das Projekt ist speziell auf die industriellen Anforderungen konventioneller Bearbeitungsprozesse ausgerichtet. Eine wichtige in Experimenten gewonnene Schlussfolgerung lautet bereits: Die Haftkraft des Eises entwickelt ausreichend hohe Spannkräfte, um Werkstücke sicher zu spannen und den während der zerspanenden Bearbeitung auf das Werkstück ausgeübten Prozesskräften standzuhalten.

Vertiefung: Die im Prozess entstehende Wärme stellt das Hauptrisiko für die Prozesssicherheit dar. Dieser Anforderung wird durch die Ableitung eines robusten, auf Sliding Mode basierenden Regelgesetzes Rechnung getragen (siehe Quellen 1 und 2), das unempfindlich gegenüber Modell- und Parameterunsicherheiten ist: Es ist zudem stabil in Bezug zu thermischen Störungen. Das wurde durch Simulationen und Messungen belegt. Das Regelgesetz fußt auf einer mathematischen Modellbeschreibung und einer Formelableitung der maßgeblichen physikalischen Effekte.

Basierend auf den gewonnenen Ergebnissen wird ein Prototyp eines eingebetteten Regelsystems und einer optimierten Spannvorrichtung entworfen und gefertigt. Eine verteilte Regelungsoptimierung wird hierbei verfolgt, ebenso wie eine sensorlose Zustandsschätzung (siehe 3): Damit wird bewiesen, dass die Regelung die Leistung der Eisspannung im Hinblick auf eine genauere und homogenere Kühlung – damit auch eine sicherere und für industrielle Anwendungen geeignetere Spannung – verbessert. Dieses innovative Verfahren würde künftig ermöglichen, die Eisspannung in den Rahmen von Industrie 4.0 zu integrieren (Quelle 4).

Schematische Darstellung ©Felix van Rossum
Schematische Darstellung des Zusammenwirkens von Werkstück, Haftungsmedium Eis und der Spannplatte (clamping plate), Felix van Rossum et al.

Quellen
[1] Felix van Rossum, Benedikt Haus, Paolo Mercorelli, and Andreas Zedler. Cascaded kalman filters for a sliding mode control in a peltier structure for an innovative manufacturing system. In IECON 2021 – 47th Annual Conference of the IEEE Industrial Electronics
Society, pages 1–6, 2021.
[2] Mironova A., Mercorelli P. and Zedler A., “A Multi Input Sliding Mode Control for Peltier Cells using a Cold-Warm Sliding Surface”, Journal of Franklin Institute (Elsevier Publishers), vol. 355, no. 18, pp. 9351-9373, 2018.
[3] Alexandra Mironova, Benedikt Haus, Andreas Zedler, and Paolo Mercorelli. Extended kalman filter for temperature estimation and control of peltier cells in a novel industrial milling process. IEEE Transactions on Industry Applications, 56(2):1670–1678, March 2020.
[4] Paolo Mercorelli et al., Modeling, Identification, and Control for Cyber- Physical Systems Towards Industry 4.0, Elsevier Publisher, ISBN: 9780323952071, Buch im Druck, 2023.
 

Kontakt

F. van Rossum, B. Haus, A. Mironova, A. Zedler und P. Mercorelli sind am Institut für Produktionstechnik und -Systeme der Leuphana Universität Lüneburg tätig; H. Aschemann forscht am Lehrstuhl für Mechatronik der Universität Rostock.

Leuphana Universität Lüneburg
Institut für Produktionstechnik und –systeme
Fakultät Management und Technologie
Universitätsallee 1
21335 Lüneburg

Prof. Dr.-Ing. Paolo Mercorelli