Vorurteile und kontextbasierte Diskriminierung im Fokus

Diversity Day 2024: Prof. Dr. Birte Siem und Dr. Iniobong Essien im Interview

27.05.2024 Sozialer Kontext scheint eine Rolle für Vorurteile, Stereotype und Diskriminierung zu spielen. Vorurteile können stärker oder weniger stark ausgeprägt sein, je nachdem in welchen Situationen wir Menschen antreffen, die der anderen Gruppe angehören.

©Leuphana/Grafik
Aus verschiedenen (sozialpsychologischen) Forschungsarbeiten ist bekannt, dass eine diversitätssensible Außendarstellung einer Organisation (z.B. in Form eines Pro-Diversity-Statements auf der Webseite eines Unternehmens) ein wirksamer Ansatz sein kann, um diese Organisation für Mitglieder benachteiligter Gruppen attraktiver zu machen. Damit eine derartige Strategie wirksam ist, ist es aber wichtig, dass sie mehr als „leere Worte“ beinhaltet.

Fragen Prof. Dr. Birte Siem

Insbesondere gegenüber marginalisierten Gruppen existieren viele Vorurteile. Welche (sozial-)psychologische Ansätze gibt es, um Vorurteile oder Exklusion zu reduzieren? Wie lassen sich diese in der Praxis umsetzen?
Es gibt eine ganze Reihe von sozialpsychologisch fundierten Ansätzen, die sich zur Reduzierung von Vorurteilen einsetzen lassen. Einer der meistbeforschten Ansätze ist hier der direkte (face-to-face) Intergruppenkontakt. Dabei interagieren Mitglieder (meist) zweier sozialer Gruppen, deren Beziehung durch gegenseitige Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung geprägt sind, miteinander. Sind in der Kontaktsituation noch bestimmte Bedingungen erfüllt (z.B. das Vorhandensein eines gemeinsamen Ziels, das nur durch Kooperation zwischen den Gruppen erreicht werden kann), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Intergruppenkontakt zu einem Abbau von Vorurteilen und Stereotypen beitragen kann. In der Praxis lässt sich eine derartig gestaltete Kontaktsituation beispielsweise sehr gut im Rahmen kooperativen Lernens umsetzen. Bei diesem auch als Jigsaw-Methode oder Gruppenpuzzle bezeichneten Ansatz werden Kleingruppen aus Schüler*innen oder Studierenden gebildet, die sich aus Mitgliedern verschiedener sozialer Gruppen zusammensetzen und ein gemeinsames Lernziel nur durch Kooperation erreichen können.
Auch wenn der Ansatz des Intergruppenkontakts Stereotype und Vorurteile nachweislich reduzieren kann, ist er doch auch kritisch zu betrachten. So zeigt eine Reihe von u.a. auch eigenen Forschungsarbeiten, dass ein freundlicher, kooperativer Kontakt zwar Vorurteile reduzieren kann, gleichzeitig aber auch demobilisierend wirken kann, sprich die Bereitschaft von Mitgliedern benachteiligter und privilegierter sozialer Gruppen, sich für sozialen Wandel einzusetzen, unterminieren kann. Kontakt sollte daher idealerweise auch „politisiert“ sein, also u.a. die Thematisierung von gruppenbasierter Ungerechtigkeit oder Statusunterschieden erlauben.
Eine weitere potenzielle Einschränkung des Kontakt-Ansatzes (und verschiedener weiterer Ansätze zur Reduzierung von Vorurteilen) liegt darin, dass diejenigen, deren Vorurteile vergleichsweise stark sind, durch diese Ansätze in der Regel nicht erreicht werden. Menschen mit stärkeren Vorurteilen werden kaum (freiwillig) an einer Intervention mit direktem Kontakt teilnehmen oder selbst aktiv den Kontakt zu Mitgliedern einer negativ stereotypisierten Fremdgruppe aufsuchen. Ein vielversprechender Ansatz, der diese Problematik adressiert, basiert auf dem Prinzip der Entertainment Education. Die Kernidee besteht darin, Informationen zu sozial relevanten Themen mittels unterhaltsamer Geschichten (z.B. in Form von Filmen oder Büchern) zu vermitteln. So konnten wir in unserer eigenen Forschung zeigen, dass mittels dieses Ansatzes Anti-Muslimische Vorurteile nicht-muslimischer Personen reduziert werden konnten, vor allem bei Personen, die vergleichsweise starke Vorurteile hegten. Der Ansatz ist vermutlich deshalb besonders wirksam für diese Personengruppe, weil die kritische vorurteilsreduzierende Botschaft „unter dem Radar“, verpackt in eine spannende Geschichte vermittelt wird. Diese und andere mögliche Wirkmechanismen untersuchen wir gerade genauer in unserer Forschung.  
Viele Institutionen bilden nach wie vor die gesellschaftliche Diversität nicht adäquat ab. Wie können beispielsweise Beratungsangebote, die als Zielgruppe gesellschaftlich benachteiligten Gruppen haben, diese besser erreichen?
Mitglieder benachteiligter Gruppen sind in verschiedenen Institutionen nach wie vor unterrepräsentiert, so z.B. BIPoC als Lehrkräfte an Schulen oder als Mediziner*innen im Gesundheitswesen. Aus verschiedenen (sozialpsychologischen) Forschungsarbeiten ist bekannt, dass eine diversitätssensible Außendarstellung einer Organisation (z.B. in Form eines Pro-Diversity-Statements auf der Webseite eines Unternehmens) ein wirksamer Ansatz sein kann, um diese Organisation für Mitglieder benachteiligter Gruppen attraktiver zu machen. Damit eine derartige Strategie wirksam ist, ist es aber wichtig, dass sie mehr als „leere Worte“ beinhaltet. Verschiedene Forschungsbefunde zeigen beispielsweise, dass ein Diversität befürwortendes Statement einer Institution Mitglieder benachteiligter Gruppen eher misstrauisch macht (und evtl. als „Diversity-Washing“ wahrgenommen wird), wenn sich die Wertschätzung von Diversität nicht auch ganz klar in den Strukturen und Angeboten der Institution findet. Darüber hinaus legt u.a. eigene Forschung nahe, dass auch die wahrgenommenen Gruppenzugehörigkeiten von Klient*innen und Fachkräften (z.B. psychosozialer Berater*innen) innerhalb einer Institution eine Rolle spielen können. Wird hier eine gemeinsame Gruppenzugehörigkeit wahrgenommen, kann dies das Vertrauen der Klient*innen in die Fachkraft fördern. Die Studienergebnisse hierzu sind allerdings insgesamt inkonsistent, so dass weitere Forschungsarbeiten nötig sind, bevor klare Praxisempfehlungen ausgesprochen werden können.

Fragen Dr. Iniobong Essien

Welche Rolle spielt der soziale Kontext bezogen auf Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung? Können Sie dafür Beispiele geben?
Die Idee, dass bei Vorurteilen und Diskriminierung der soziale Kontext, d.h. Situationen, das soziale Umfeld, oder auch die physische Umwelt eine Rolle spielt, existiert schon seit längerer Zeit. Beispielsweise zeigen Studienbefunde mit US-amerikanischen Teilnehmenden, dass Vorurteile gegenüber Schwarzen Menschen stärker ausgeprägt sind, wenn sich diese in stereotypisch negativen Situationen, wie einer Straßenecke oder einer mit Graffiti beschmierten Wand, befanden. Vorurteile waren demgegenüber weniger stark ausgeprägt, wenn sich die Schwarzen Personen in einer eher positiven Situation wie einem Familienfest befanden. Befunde wie diese deuten darauf hin, dass Eigenschaften der Situation bei der Ausprägung von Vorurteilen eine Rolle spielen können.
Zudem wissen wir aus der Forschung der vergangenen Jahre, dass Vorurteile und Stereotype auch geographisch variieren können. Derartige Forschung untersucht auf geographischer Ebene, inwieweit Vorurteile und Stereotype in Regionen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, zum Beispiel weil diese ortsabhängig mehr oder weniger von der lokalen Bevölkerung geäußert werden und wie diese Unterschiede in der Ausprägung von Vorurteilen mit lokalem diskriminierenden Verhalten zusammenhängen. Beispielsweise konnten wir in einer eigenen Studie zu Racial Profiling in den USA zeigen, dass in Regionen mit stärker ausgeprägten anti-Schwarzen Vorurteilen und Stereotypen disproportional häufiger Schwarze Autofahrende von der Polizei gestoppt wurden. Die Studie basierte auf mehr als 130 Millionen Verkehrsstopps und zeigte, dass Schwarze Autofahrende besonders in Landkreisen eher von der Polizei gestoppt wurden, in denen die lokale weiße Bevölkerung Afroamerikaner weniger mochte. Derartige Zusammenhänge zwischen Vorurteilen und Diskriminierung in Regionen konnten mittlerweile in verschiedenen Bereichen gezeigt werden wie dem Gesundheitsbereich oder Benachteiligung im Bildungssystem. Die meisten bisherigen Befunde in diesem Bereich kommen aus den USA und in Deutschland wird noch immer zu wenig systematisch Forschung in diesem Bereich betrieben.
Nicht zuletzt können auch physische Umwelten selbst zum Ziel von Stereotypen werden. Beispielsweise zeigt Forschung zu sogenannten ortsbezogenen Stereotypen, dass wir Orten unterschiedliche Eigenschaften zuschreiben, je nachdem welche sozialen Gruppen dort ansässig sind. Zum Beispiel deuten Studienbefunde aus den USA darauf hin, dass Nachbarschaften, in denen mehrheitlich Schwarze Menschen leben, eher mit negativen Eigenschaften wie „arm“ oder „heruntergekommen“ verbunden werden. Passend dazu konnten wir auch in unserer Forschung zeigen, dass Studienteilnehmende in Deutschland sehr negative Vorstellungen von migrantisch geprägten Nachbarschaften haben und mit diesen Orten Eigenschaften wie „Kriminalität“, „dreckig“ und „gefährlich“ verbanden. Demgegenüber verbanden die Studienteilnehmenden mit Nachbarschaften, in denen mehrheitlich Deutsche leben, vorwiegend positive Eigenschaften wie „sauber“, „ordentlich“ und „sicher“. Diese Befunde passen auch zu Forschung, die sich mit öffentlichen Diskursen in Deutschland beschäftigt und die zeigt, dass migrantisch geprägte Nachbarschaften häufig als „Problemviertel“ oder „sozialer Brennpunkt“ benannt und als von Konflikten und Kriminalität geprägt beschrieben werden. Wir gehen davon aus, dass ortsbezogene Stereotype zum einen wegen ihrer starken Verbreitung gesellschaftlich relevant sind. Da die bisherige Forschung zudem darauf hindeutet, dass ortsbezogene Stereotype beeinflussen, wie stark wir uns mit Orten verbunden fühlen und wie sehr wir bereit sind, diese Orte zu schützen und uns um sie zu kümmern, sind ortsbezogene Stereotype vermutlich auch für politische, stadtplanerische und infrastrukturelle Entscheidungen relevant.
Im Projekt „Kontextbasierte Diskriminierung im Schulkontext“ haben Sie untersucht, ob die ethnische Zusammensetzung von Schulklassen sich auf diskriminierendes Verhalten von Lehrkräften auswirkt. Welche Erkenntnisse konnten Sie aus Ihrem Projekt gewinnen?
In diesem Projekt entwickeln und testen wir ein theoretisches Modell, das annimmt, dass die ethnische und sozioökonomische Zusammensetzung von Schulen Stereotype und das Entscheidungsverhalten von Lehrpersonal im Klassenzimmer beeinflussen und somit zu Disparitäten im Bildungsbereich beitragen. Wir bezeichnen diesen Effekt als “kontextbasierte Diskriminierung”. Im Rahmen experimenteller Studien testen wir, inwieweit Lehrpersonen Schulklassen negativer wahrnehmen, wenn in diesen ein größerer Anteil an Schüler*innen vertreten ist, die negativ stereotypisierten Gruppen angehören.

Rückfragen und Kontakt

  • Dr. Iniobong Essien
  • Prof. Dr. Birte Siem