„Das europäische Lieferkettengesetz greift jetzt stark in den Markt ein!

05.06.2024 Am 24. Mai hat der EU-Rat nach langen Kontroversen das neue Lieferkettengesetz beschlossen. Professor Patrick Velte, Inhaber der Professur für BWL, insbesondere Accounting, Auditing & Corporate Governance an der Fakultät für Management und Technologie hat den Prozess intensiv begleitet. Als die neue Richtlinie auf der Kippe stand, veröffentlichte er mit rund 100 internationalen Forschenden einen Aufruf zur Annahme. In der Rubrik „3 Fragen an“ zieht er ein Fazit der Entwicklungen und kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Wirtschaft unter anderem Aufholbedarf in der Nachhaltigkeitsberichterstattung hat."

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Pixelio.de/Bernd Sterzl

Prof. Velte, in den letzten Wochen haben schließlich sowohl das EU-Parlament als auch der EU-Rat die neue Lieferkettenrichtlinie beschlossen. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Letztlich bin ich zufrieden darüber, dass Parlament und Rat die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (kurz: CSDDD oder CS3D) noch vor der Europa-Wahl am 9. Juni angenommen haben. Allerdings wurden gegenüber der Trilogfassung 23, also der verhandelten Version zwischen Vertretenden der Kommission, des Parlaments und des Ministerrats, starke Änderungen vorgenommen, um zu einem politischen Kompromiss zu gelangen. Die CS3D greift für weit weniger Unternehmen als gedacht, wie etwa Kapitalgesellschaften und kapitalistische Personenhandelsgesellschaften mit einer durchschnittlichen Arbeitnehmerzahl von mehr als 1 000 und einem weitweiten Nettoumsatz von mehr als 450 Millionen Euro. Schätzungen zufolge sind dies europaweit lediglich rund 5 400 Unternehmen. Ursprünglich sollte die CS3D Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmenden berücksichtigen und bei bestimmten Risikosektoren, wie etwa Textilherstellung, Leder oder Land- und Forstwirtschaft, schon bei Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden greifen. Viele Unternehmen betrifft die neue Richtlinie nun gar nicht mehr.

Mit Ihren Kolleginnen Anne-Christin Mittwoch und Matthias Birkholz starteten Sie vor einigen Monaten einen Aufruf im Internet, den über 100 namhafte europäische Wissenschaftler:innen unterzeichneten. Sie und Ihre Kolleginnen fürchteten die Ablehnung der CSDDD im EU-Rat. Wo liegen Ihre Hauptargumente für die Umsetzung der Richtlinie?
Unternehmen müssen erstmals umwelt- und sozialrelevante Sorgfaltspflichten entlang ihrer Wertschöpfungskette beachten und hierfür solide nachhaltigkeitsbezogene Risiko- und Compliance-Management-Systeme implementieren. Damit ist die CS3D wesentlich weitreichender gegenüber dem neuen deutschen Lieferkettengesetz. Das greift zwar bei Firmen ab 1 000 Mitarbeitenden unabhängig von der Umsatzgröße, jedoch bleiben Verstöße gegen die Sorgfaltspflicht ohne Konsequenzen für die Geschäftsführung.
Mit der CS3D kann zudem das wichtige Ziel der Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden.. Die Richtlinie bildet damit einen starken Bestandteil des EU-Green-Deal-Projekts, neben der EU-Taxonomie-Verordnung und der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD). Darüber hinaus ist sie das erste branchenübergreifende Gesetzeswerk zur nachhaltigen Unternehmensführung (Sustainable Corporate Governance) in der EU, zumindest in Bezug auf das Risiko- und Compliancemanagement.
Die Verantwortlichen in den Firmen sind jetzt verpflichtet, einen Übergangsplan zur Eindämmung des Klimawandels zu machen und umzusetzen in Übereinstimmung mit dem Pariser Klimaschutzabkommen und dem EU-Klimaschutzgesetz. Damit greift das europäische Lieferkettengesetz stark in die Regulierung der Unternehmensführung ein, denn sie fordert ein Geschäftsmodell, das die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft vorantreibt. Die Firmen müssen darüber alle zwölf Monate Bericht erstatten, was wissenschaftsbasierte Klimastrategien und -ziele erfordert. Die Herausforderungen sind gewaltig.

Bald wird die CS3D in Europa in Kraft treten. Inwieweit sind die Fachdisziplinen wie BWL jetzt aufgefordert, ihren Lehrplan anzupassen?
Streng genommen ist der traditionelle Begriff Betriebswirtschaftslehre oder BWL nicht mehr zeitgemäß. Denn die Verantwortung der Geschäftsführung endet längst nicht mehr beim eigenen Betrieb oder bei den Konzernunternehmen, sondern fordert Sorgfaltspflichten entlang der gesamten Wertschöpfungskette (Sustainable Supply Chain) ein.
An der Leuphana haben wir bereits vor Jahren  die betriebswirtschaftlichen Studiengänge mit Nachhaltigkeitsthemen verknüpft, wie etwa im MBA Sustainability Management, dem Major International Business Administration & Entrepreneurship oder in den beiden Masterprogrammen Management & Entrepreneurship sowie Management & Sustainable Accounting and Finance.
Auch gibt es an der Professional School sehr wertvolle betriebswirtschaftliche Weiterbildungsprogramme, etwa das Nachhaltigkeits-Zertifikat von Prof. Stefan Schaltegger und mir zum Sustainability Reporting & Accounting.
Aktuell habe ich gemeinsam mit meinem Doktoranden Christoph Wehrhahn eine Interview-Studie unter deutschen Aufsichtsrät:innen, internen Revisor:innen und Abschlussprüfer:innen unternommen. Dabei ging es um die Frage um den Einfluss der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) und CSDDD auf ihr Tätigkeits- und Besetzungsprofil und das Kooperationspotential im Rahmen der Nachhaltigkeitsüberwachung. Es zeigte sich hierbei, dass die Verantwortlichen noch starken Nachholbedarf haben, etwa bei Themen der Umwelt, Biodiversität zum Beispiel.

 

©Leuphana
Prof. Dr. Patrick Velte