Gender und Gerechtigkeit: Verabschiedung Prof. Dr. Angelika Henschel

17.07.2024 Die Professorin für Sozialpädagogik, insbesondere Genderforschung, Jugendhilfe und Inklusion, Angelika Henschel leitete das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, wurde mit dem Sonderforschungspreis für Geschlechter- und Diversitätsforschung ausgezeichnet und führte zahlreiche internationale Forschungsprojekte durch. Der Leuphana bleibt sie auch über ihren Ruhestand hinaus als Gastprofessorin verbunden und wird so u. a. den berufsbegleitenden Bachelor Studiengang Soziale Arbeit für Erzieherinnen und Erzieher in der Professional School weiterhin leiten.

©Leuphana
„Traditionelle Geschlechterverhältnisse mit ihren spezifischen strukturellen Ausprägungen, die sich u. a. in Rollenstereotypen und in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern abbilden und zu Hierarchisierungen und einem Machtgefälle zwischen den Geschlechtern führen, können die Gewaltausübung begünstigen", erklärt Prof. Dr. Angelika Henschel.

In Lübeck gibt es ein autonomes Frauenhaus. Eines Tages wollte die Stadt Lübeck alle bestehenden Verträge mit dem Frauenhaus fristlos kündigen. Daraufhin gingen dessen Mitarbeiterinnen zum Rathaus und mauerten dort die Eingänge mit Ytong-Steinen zu. Ytongbeton besteht zum größten Teil aus Kalk und Zement, ist schön glatt und lässt sich leicht verlegen. Das Ganze ist ein bisschen typisch für den Kampf, den Frauenhäuser führen: Was man tut wird von außen ständig sowie grundsätzlich in Frage gestellt und man muss weit über das erwartbare Engagement hinausgehen damit auch nur der aktuelle Stand gehalten wird. Die Ytong-Geschichte klingt als hätte sie sich während der 68er-Bewegung ereignet, aber, nein, das war 2002 und somit vergleichsweise kürzlich. Gegründet wurde das Frauenhaus (wie auch der tragende Verein „frauen helfen frauen e.V.“) 1977 u.a. von Angelika Henschel – die damals noch zur Schule ging. Es war eines der ersten Frauenhäuser in Deutschland und das erste überhaupt in Schleswig-Holstein.

Heute ist ein wenig in Vergessenheit geraten wie aussichtslos die Situation für Frauen in der Bundesrepublik Deutschland, von der Gründung bis weit in die achtziger Jahre hinein, war. Verheiratete Frauen lebten mit ihren Männern zusammen, hatten Kinder, waren finanziell abhängig. Sie konnten nirgendwo hin, wenn der Mann gewalttätig wurde. Die Kinder würden die Frauen nicht allein lassen – und selbst wenn sie es täten: Es gab keinen Ort, wo sie hätten unterkommen können, schon gar nicht ohne Geld. Das Entstehen der Frauenhäuser, als niedrigschwellige Schutz-, Zufluchts- und Sicherheitsräume war eine enorme Verbesserung. Wobei ‚Entstehen‘ vielleicht das falsche Wort ist, denn zumindest im Fall des Lübecker Frauenhauses war es eher ein Durchkämpfen gegen eine nicht enden wollende Serie von Widerständen (gegen nicht oder deutlich geringer als beantragt fließende Zuschüsse, drangsalierende Vermieter und immer wieder drohende Schließung aus politischen Gründen). Angelika Henschel hat neben ihrer Schulzeit und dann während ihres Studiums lange mit, bei und für die Frauen gearbeitet, die vor Gewalt ins Frauenhaus geflohen sind und – obwohl sie auch zu sehr vielen anderen Themen der Geschlechterfragen geforscht hat - das Verstehen der Frauenhäuser bildet gewissermaßen den Kern ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Dabei hat sie drei Fragen in den Mittelpunkt gestellt: Warum kommt es zu Gewalt im Geschlechterverhältnis? Wie geht es den Kindern von gewaltbetroffenen Frauen? Wie können Aufklärung und Bildung helfen?

Struktur und Erinnerung

Empirisch konnte Angelika Henschel nachweisen, dass die Ursachen von Gewalt auf zwei Ebenen liegen. Zum einen sind es strukturelle Bedingungen, die individuelle Erfahrungen prägen. „Patriarchale Geschlechterverhältnisse bergen Gewaltrisiken“, erklärt die Wissenschaftlerin, „denn traditionelle Geschlechterverhältnisse mit ihren spezifischen strukturellen Ausprägungen, die sich  u. a. in Rollenstereotypen und in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern abbilden und zu Hierarchisierungen und einem Machtgefälle zwischen den Geschlechtern führen, können die Gewaltausübung begünstigen. Wir sehen das an ganz konkreten Daten, zum Beispiel am Gender Pay Gap. Frauen verdienen im Schnitt immer noch 18 Prozent weniger. Frauen haben im Durchschnitt zwischen 30 und 40 Prozent weniger Rente zur Verfügung, als das für Männer gilt. Sie sind eineinhalb Mal so häufig in die Versorgung der Familie eingebunden.“ Aber auch emanzipierte Paare, bei denen Gewalt gar kein Thema ist, scheitern häufig an diesen gesellschaftlich vorgegebenen arbeitsteiligen Verhältnissen. „In denen werden bis heute Care Tätigkeiten überwiegend an Frauen delegiert und von ihnen übernommen, da sie ja in der Regel über ein geringeres Erwerbseinkommen verfügen“, fährt Henschel fort. „Erschwerend wirken sich hier zudem der Mangel an öffentlicher Kinderbetreuung und ein fehlendes Ganztagsschulprogramm aus. Frauen erfahren so, strukturell begünstigt, finanzielle Abhängigkeiten vom Partner und so tritt häufig das ein, was in der Literatur als die ‚Re-Traditionalisierung‘ der Geschlechterverhältnisse“ bezeichnet wird.“

Darüber hinaus gibt es die konkrete, private Ebene der jeweiligen Beziehung. Hier spielt es eine große Rolle, was man beim Aufwachsen in der Familie erlebt hat - konkret, ob man miterlebt hat, wie der eigene Vater die Mutter geschlagen oder misshandelt hat. „Wir wissen aus zahlreichen Untersuchungen“, so Henschel, „dass dies das Risiko erhöht, als Junge oder später als Mann selbst Gewalt auszuüben, weil man sich häufig mit den väterlichen Tätern identifiziert. Und für die Frauen bedeutet das, dass sie, wenn sie in solchen Familien aufwachsen, häufiger auch Opfer werden und dann später selbst in ihren Liebesbeziehungen Gewalt erfahren. Das sind Risiken, die die Lerngeschichte der Gewalt dann auf der ganz konkreten Ebene zeigt, neben den strukturellen Bedingungen. Aber beides greift eben ineinander und kann nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.“ Somit sind auch therapeutischen oder sozialpädagogischen Angeboten für die Opfer Grenzen gesetzt. Therapeutische und pädagogische Arbeit kann nur mit der betroffenen Person arbeiten, das Charakteristische an Gewaltverhältnissen ist aber die Verschränkung von Individuellem und Strukturellem. „Und genau das muss in unserer Gesellschaft verändert und verbessert werden, weshalb der Politik hier eine wichtige Aufgabe zukommt.“

Groß werden

„Später habe ich mich dann mit den mitbetroffenen Kindern und Jugendlichen beschäftigt, die in solchen Familien aufwachsen. Und dazu habe ich eben auch geforscht, weil mich vor allem interessiert hat, was eigentlich aus diesen Kindern, also den Kindern, die in gewaltbelasteten Familien aufgewachsen sind, in der Zukunft wird. Inwieweit kann man sie durch professionelle pädagogische Begleitung in ihrer weiteren Identitäts- und Persönlichkeitsbildung unterstützen? Wie können sie die erlebte Gewalt besser verarbeiten und was brauchen sie dafür?“ Ihre Ergebnisse hat sie in der großen Monographie ‚Frauenhauskinder und ihr Weg ins Leben‘ veröffentlicht. Es war eine Pilotstudie im engeren Sinne, denn Henschel betrat damit wissenschaftliches Neuland. Bis dahin hatte sich noch niemand mit dem Schicksal dieser Kinder beschäftigt, was auch daran lag, dass es sehr aufwendig war, die inzwischen erwachsenen Kinder ausfindig zu machen und Daten zu erheben. Sie wurde mehrfach ins Ausland eingeladen, um über ihre Ergebnisse zu berichten. Schließlich auch 2021 an die Australian Catholic University in Sydney, um die Studie dort zu replizieren, was dann aufgrund der Corona Pandemie und der damit verbundenen angeordneten Schutzmaßnahmen leider nicht mehr möglich war.

„Etwas hat mich überrascht“, sagt Angelika Henschel, „ich habe überall festgestellt, dass es Kinder gab, die - obwohl sie in diesen zum Teil wirklich bedrohlichen und beängstigenden Verhältnissen aufgewachsen sind - auf mich eine relativ stabile Persönlichkeit verkörperten. Zumindest bei denen, die bereit waren, an der Forschung teilzunehmen, war das fast immer der Fall. Das hat mir Hinweise darauf gegeben, wie wichtig gerade auch ein vorübergehender Aufenthalt im Frauenhaus sein kann, um der Gewalt zu entfliehen. Das hat nicht nur die Frauenhäuser in ihrer öffentlichen Wahrnehmung gestärkt, sondern es hat auch dazu geführt, dass mir durch meine Ergebnisse noch einmal deutlicher geworden ist, wie wichtig dieses Hilfesystem ist. Es ist sehr bedauerlich, dass dieses Hilfesystem bis heute unzureichende finanzielle Unterstützung erhält.“

‚Frauenhauskinder und ihr Weg ins Leben‘ ist auch über den unmittelbaren wissenschaftlichen Wert hinaus eine sehr lohnende Lektüre und bietet tiefe Einblicke in Geschlechterverhältnisse und Resilienz. Vor allem aber fallen beim Lesen die Aussagen der ehemaligen Frauenhaus-Kinder auf, in ihrer von Henschel hervorgehobenen Lebendigkeit und Unzerbrechlichkeit. „Es war als ob ich tot wäre die ganzen Jahre und auf einmal war ich lebendig“, zitiert sie die Interviewteilnehmerin Emilia. Emre, der ebenfalls einen Teil seiner Kindheit in einem Frauenhaus verbracht hat, sagt: „Ihr müsst stark sein, egal was passiert. […] nach dem Frauenhaus gibt es immer noch ein Leben weiter. Und ich hoffe einfach nur, dass ihr euren Müttern helft und glaubt mir, ihr kriegt das alles noch zurück. Und ich meine, ich hab´s auch geschafft und hoffe auch, dass ihr das schafft.“

Multiplikator*innen

„Gerade in den jeweiligen sekundären Sozialisationsinstanzen wie Schule, Kita und so weiter ist noch viel Bewusstseinsarbeit zu leisten. Es geht jetzt darum, auch die Rollenbilder und strukturellen Bedingungen zwischen den Geschlechtern, die immer noch Ungleichheiten schaffen, in den Blick zu nehmen und aufzuklären, um Veränderungen anzustoßen“, betont Henschel. Genau um diese Aufklärung geht es in ihrem aktuellen Projekt: ‚Multiplikator*innenschulung Kinder und Jugendliche in Familien mit Partnerschaftsgewalt für Lehrkräfte und Fachkräfte der Sozialen Arbeit in Niedersachsen‘, das in Kooperation mit dem Institut für Schule, Jugendhilfe und Familie durchgeführt sowie vom Sozialministerium gefördert wird. In dem auf drei Jahre angelegten Projekt können sich Fachkräfte aus Schule, Jugendhilfe und anderen Einrichtungen zum Thema fortbilden. „Um dann innerhalb ihrer Einrichtung und auch über Niedersachsen hinaus als sogenannte Multiplikator*innen eigene Projekte zu entwickeln, um diese Thematik weiter zu verbreiten sowie Hilfestellung für diese Kinder und Jugendlichen leisten zu können. Also zu schauen, welche Ressourcen können die Kinder und Jugendlichen im Sinne einer Resilienzstärkung nutzen und damit es nicht zu weiteren Gewaltausübungen kommt. Das versuchen wir im Rahmen unserer Ausbildung zu vermitteln. Sie geht insgesamt über acht bis neun Monate und beinhaltet jeweils vier Veranstaltungen mit jeweils drei Seminartagen, in denen es darum geht, sich dieses Wissen und diese Kompetenzen anzueignen. Wir wollen versuchen, die Fortbildungsteilnehmenden für die Fragen nach Kindeswohl und Kinderschutz im Kontext von Partnerschaftsgewalt zu sensibilisieren und durch eine verbesserte Vernetzung und Kooperationen Handlungsfähigkeit im Rahmen von Prävention und Intervention zu ermöglichen.“

In Zeiten des Backlash und des Wiedererstarkens rechter Strömungen wird manchmal irreführend behauptet, die Geschlechtergerechtigkeit sei im Wesentlichen erreicht.  Deshalb ist es vielleicht nicht ganz falsch, sich in Erinnerung zu rufen, wie wichtig das Thema ist, dem Angelika Henschel ihre Forschung widmet, und wie viel noch zu tun ist: „Besonders deutlich wird das bei den Femiziden, um nur ein Stichwort zu nennen: Jeden Tag versucht ein Mann seine Partnerin zu töten. An jedem dritten Tag gelingt dem Täter die Tötung einer Frau in Deutschland. An jedem dritten Tag.“

Ihr Studium der Erziehungswissenschaft, Lernbehindertenpädagogik, Verhaltensgestörtenpädagogik und Germanistik schloss die gebürtige Lübeckerin 1992 mit der Promotion an der Universität Hamburg ab. Nach Stationen als Jugendbildungsreferentin und Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Nordelbien wurde sie 1996 Professorin an der Fachhochschule Nordostniedersachsen. 2009 wurde sie zur Universitätsprofessorin ernannt. Neben ihrer Tätigkeit als Professorin war sie u.a. Gutachterin für den Schweizerischen Nationalfonds, Mitglied im Fachbeirat des Deutschen Caritasverbandes e.V. und Mitglied der Steuerungsgruppe 'rückenwind - Für die Beschäftigten in der Sozialwirtschaft' des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Gastprofessuren und eine dreijährige Adjunct Professur führten sie an unterschiedliche Universitäten in Australien. Ehrenamtlich engagiert sie sich weiterhin im  Verein 'frauen helfen frauen Lübeck e.V.' und darüber hinaus u.a. im Projekt 'Mixed Pickles - zur Verbesserung der Lebenssituation von Mädchen und Frauen mit Behinderungen in Schleswig-Holstein' und in der Frauenstiftung 'filia - Frauen und Mädchen weltweit stärken'. Parallel zu ihren zu Standardwerken avancierten Publikationen wird Angelika Henschel regelmäßig von Medien als Expertin zu Frauen- und Geschlechterthemen eingeladen, darunter zum NDR-Podcast 'Deine Geschichte - unsere Geschichte' über die Frauenbewegung der 70er Jahre. 2002 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2007 den Preis der Leuphana Universität Lüneburg für innovative Lehre und 2019 wurde sie mit dem Leuphana Forschungspreis für Geschlechter- und Diversityforschung ausgezeichnet. Neben ihrer Gastprofessur leitet sie den berufsbegleitenden Bachelor-Studiengang ‚Soziale Arbeit‘ an der Professional School.

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