Wissenschaftler*innen im Porträt: Prof. Dr. Lars Alberth – Unsichtbare Kinder
23.11.2020 Der Soziologe forscht zu Herrschaftsmechanismen: Wie werden Altersgruppen in der Gesellschaft definiert? Wer wird dadurch ausgeschlossen? Kinder seien marginalisiert und an vielen Stellen fehlten Räume für sie.
„Stellen Sie sich vor, ich säße in der Mensa, jemand käme hinein, würde mein Tablett vom Tisch schleudern, mich schlagen und anschreien. Jeder hielte es für angemessen, wenn ich die Polizei rufen würde“, sagt Dr. Lars Alberth und bezieht sich mit dem Beispiel auf den US-amerikanischen Sozialwissenschafter David Finkelhor von der Universität New Hampshire. Was aber würde passieren, wenn der gleiche Streit zwischen Kindern entbrannt wäre? „Gewalt zwischen Kindern wird anders bewertet als zwischen Erwachsenen. Ganz oft scheitern Kinder, wenn sie Hilfe suchen. Wiederholte Beschwerden werden oft abgetan mit: ,Nun ist es aber gut‘“, erklärt der Professor für Theorien und Methoden der Kindheitsforschung. Der Soziologe beschäftigt sich mit Kindern als gesellschaftliche Gruppe: „Kindheit ist hochgradig gerahmt durch Kindergarten und Schule, dennoch sind Kinder oft marginalisiert. Sie werden erst für die Teilhabe an der Gesellschaft erzogen“, erklärt der Wissenschaftler. Dabei hätten Kinder sehr wohl viele gesellschaftlich relevante Kompetenzen: Sie sind etwa empathisch, können beispielsweise Geschwister betreuen oder ihre Freunde unterstützen. „Sogar Petzen kann als eine Form genutzt werden, um Gerechtigkeit wiederherzustellen“, erklärt Lars Alberth.
Der Wissenschaftler forscht zu gesellschaftlichen Räumen des Privaten und Öffentlichen und den damit verbundenen Herrschaftsmechanismen: Wo werden Kinder sichtbar, wo werden sie unsichtbar gemacht? 2014 wurde er DAAD Research Fellow an der University of New Hampshire. Dort konnte er die Vertretung von Kindern bei Sorgerechtsverhandlungen vor Gericht beobachten: „Alle Beteiligten hatten einen eigenen definierten Platz, nur die Kinder nicht. Obwohl an diesem Ort die Rechte eines Kindes verhandelt wurden: Seine Anwesenheit wurde überflüssig gemacht“, erklärt Lars Alberth. Weil die Perspektive der Kinder zu wenig beachtet würde, bliebe auch Gewalt oft unentdeckt.
Zurzeit konzipiert Alberth ein neues Forschungsprojekt zu Gewalt in Familien. Dazu sammelt er Berichte von Erwachsenen, die in ihrer Kindheit körperlich oder sexuell missbraucht wurden und heute eine Opferentschädigung einfordern. „In vielen Fällen war das Jugendamt bereits während der Übergriffe in diesen Familien anwesend, aber dennoch wurde die Gewalt nicht gesehen“, sagt Lars Alberth. Die Forschung gehe davon aus, dass sich die Situation für das Kind verbessere, wenn es den zuständigen Behörden das Gewalterleben offenbaren würde. „Man nimmt an, dies sei das Beste fürs Kind. In der Realität hatten die Betroffenen den Missbrauch bereits mehrfach thematisiert, aber es wurde nicht richtig zugehört“, erklärt Alberth. Zudem gehe es im Kinderschutz gar nicht vornehmlich um Kinder: „Sozialpädagog*innen berichten über die Eltern, wenn es um Gewalt gegen Kinder geht und beschließen Maßnahmen, die letztlich auf eine Disziplinierung der Unterschicht zielten. Die Definition von guter Kindheit ist stark mittelschichtszentriert. Gemeinsam ein Buch zu lesen gilt etwa als Zeichen einer guten Kindheit. Nach der Qualität der Beziehung zwischen Eltern und Kindern aber wird kaum gefragt.“
Anfang des kommenden Jahres erscheint der Sammelband „Materialitäten der Kindheit“, bei dem Lars Alberth Mitherausgeber ist. Darin wird gezeigt, in welchem Maße Materialitäten mitwirken, bestimmte gesellschaftliche Kindheitsmuster und -erfahrungen auszubilden. Sollen Kinder beispielsweise schlafen, singen die Eltern ein Lied oder ziehen eine Spieluhr auf. „Ein Objekt wird zu Hilfe genommen, um die Separierung der Kinder und ein Durchschlafen nach den Regeln der Erwachsenen zu bewerkstelligen. Diskutiert wird nicht“, sagt Lars Alberth. Überhaupt seien Kinder wenig frei, hätten etwa keine Kontrolle darüber, mit wem sie zusammen sind, wann und was sie Essen sollen oder von wem sie sich anfassen lassen müssen. Das Recht auf Eigenständigkeit wird weit weniger respektiert als bei Erwachsenen: „Kinder können schreien, aber sie sind nicht frei in der Aushandlung“, sagt Lars Alberth.
Lars Alberth studierte an der Bergischen Universität Wuppertal Sozialwissenschaften und promovierte dort zur Fabrikation der europäischen Kultur. Es folgte ein Forschungs- und Lehraufenthalt am Department of Sociology der Umeå Universitet Schweden und er wurde DAAD Research Fellow am Crimes against Children Research Center/Family Research Lab der University of New Hampshire. Vor seiner Berufung an die Leuphana forschte er am Institut für Soziologie, Arbeitseinheit Arbeit und Organisation der Leibniz Universität Hannover.