Prof. Dr. Sandermann an Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung beteiligt

26.11.2024 Wenn Sie das hier lesen, dann waren auch Sie mal ein Kind. Wie geht es Kindern und Jugendlichen jetzt gerade, 2024 in Deutschland? Was beschäftigt und belastet sie, wie kann man ihnen helfen und sie unterstützen? In jeder Legislaturperiode veröffentlicht die Bundesregierung dazu den „Kinder- und Jugendbericht“. Jeder dritte dieser Berichte ist ein sogenannter „Gesamtbericht“, der sich nicht nur einem spezifischen Fokus, sondern dem gesamten Forschungsstand zum Jungsein in Deutschland und allen Angeboten und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe widmet. Erstellt wird er von einer Expert*innenkommission, zu der Prof. Dr. Philipp Sandermann von der Leuphana gehört.

©Phillip Bachmann
©Phillip Bachmann
©Phillip Bachmann

In Deutschland leben derzeit rund 22 Millionen junge Menschen – Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Deren Situation nimmt die Bundesregierung sehr genau zur Kenntnis. „Die Bundesregierung ist sich bewusst“, heißt es in einem Statement des Familienministeriums in dem Bericht, „dass junge Menschen in Deutschland in einer Zeit tiefgreifender, teils krisenhafter Entwicklungen aufwachsen, die von Unsicherheit und einem hohen gesellschaftlichen Transformationsdruck geprägt ist. […] Die Krisen der vergangenen Jahre haben bei vielen auch seelische Spuren hinterlassen.“ Bei der Erstellung des 17. Kinder- und Jugendberichts wurde großer Wert auf eine umfängliche Beteiligung junger Menschen gelegt. Um Einblicke in die Bedürfnisse, Sichtweisen und die aktuelle Lebenssituation junger Menschen zu gewinnen, führte die Kommission Beteiligungsworkshops mit ausgewählten Zielgruppen und ein Hearing mit engagierten jungen Menschen durch. Insgesamt hat die Kommission 5.381 junge Menschen zwischen fünf und 27 Jahren zu verschiedenen Fragestellungen beteiligt. „Egal, wie gute Absichten man hat – es ist immer etwas anderes mit den Leuten zu reden statt nur über sie“, kommentiert das Philipp Sandermann.
 

Wie geht es den Kindern?

Das Expert*innengremium scheute nicht davor zurück, in dem Bericht die problematischen Punkte ungeschönt anzusprechen: „Kinder und Jugendliche nehmen die gegenwärtigen multiplen Krisen (Krieg, Klimawandel, Demokratiefeindlichkeit) deutlich wahr, sind in ihren Aktivitäten zum Teil auch direkt davon betroffen und empfinden Stabilität und Frieden nicht als selbstverständlich. Ihre Bedürfnisse und Rechte wurden in den öffentlichen Diskursen und politischen Entscheidungen kaum behandelt, was bei vielen zu einem Verlust des Vertrauens in politische Systeme geführt hat.“

Weiter wird im Bericht dargelegt, wie nachlassendes Wirtschaftswachstum, massive Preissteigerungen und zumindest zwischenzeitlich eine erhebliche Erhöhung der Inflationsrate soziale und ökonomische Unterschiede verstärkt haben, was sich vor allem auf vulnerable Bevölkerungsgruppen und junge Menschen auswirke, da sie im besonderen Maße auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen seien. Feedbackschleifen aus gesellschaftlichen Krisen, Demokratiefeindlichkeit und mangelnder politischer Teilhabe trübten die Zukunftsaussichten. 

Der Einstieg in den Arbeitsmarkt gestaltete sich für junge Menschen sehr uneinheitlich. Während einige von den Chancen profitierten, die der Fachkräftemangel biete, seien andere von prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen. Die Ansprüche an Arbeitsplätze und Arbeitgeber*innen stiegen, insbesondere in Bezug auf Work-Life-Balance und Karriereperspektiven.

Die Autor*innen des Berichts weisen jedoch auch auf einen überraschenden Punkt hin: „Trotz vielfältiger gesellschaftlicher Herausforderungen zeigen Studien, dass junge Menschen mit ihrer Lebenssituation überwiegend zufrieden sind und optimistisch in die Zukunft blicken. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit spiegelt eine Gesellschaft wider, die zwar über ausreichende Ressourcen zur Schaffung gerechter Teilhabe verfügt, es aber versäumt, diese Ressourcen so zu verteilen, dass Chancengleichheit entstehen kann.“
 

Was tun?

Es ist nicht leicht, 2024 jung zu sein. Die Analysen des 17. Kinder- und Jugendberichts zeigen, dass junge Menschen heute unter sich stark verändernden Bedingungen leben und aufwachsen, oft inmitten krisenhafter Umstände.  „Häufig wird unterschlagen“, erklärt Sandermann, „dass Angehörige der jungen Generation deutlich weniger Mitbestimmungsrechte haben als Erwachsene. Sie brauchen entsprechende Rahmenbedingungen, die einen optimistischen Blick auf Gegenwart und Zukunft ermöglichen. Dabei spielt die Verlässlichkeit von Menschen, Organisationen und Institutionen eine zentrale Rolle.“ Andersherum ausgedrückt: Junge Menschen und ihre Familien geben oft einen Vertrauensvorschuss, ohne sicher sein zu können, dass dieser gerechtfertigt ist. „Daher müssen wir, was Kinder und Jugendliche angeht“, fährt Sandermann fort, „weg vom ‚weiter so‘“. 

Stattdessen schlägt er unter Bezugnahme auf die im Bericht herausgestellten Schlussfolgerungen eine Reihe konkreter Leitlinien vor, entlang derer sich das gesamtgesellschaftliche Verhältnis zu jungen Menschen ändern könnte, darunter: Jugendhilfe sollte kein Puffer für schlechte Wohn- oder Sozialpolitik sein, die Bundesländer sich (auch rechtlich und finanziell) committen, gewaltfreies Aufwachsen zu garantieren und Politik, die Kinder betrifft, sollte Kinder auch einbinden – und zwar unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ökonomischen Situation, ihrer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit, ihrer Weltanschauung/Religion, ihrem genauen Alter und der Frage, ob sie eine Behinderung haben. Nicht zuletzt ist das Bemühen um Klimagerechtigkeit etwas, was heutigen jungen Menschen später helfen kann. „Wir sollten Zukunft in der Gegenwart ermöglichen“, pointiert das Sandermann. 
 

Vertrauen

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland seien in diesem Zuge mit komplexen Herausforderungen konfrontiert. Gleichwohl geht die Kommission davon aus, dass es für viele junge Menschen durchaus auch „gute Gründe“ für Zuversicht gibt. „Auf jeden Fall gibt es gute Gründe für Zuversicht“, sagt Sandermann, „aber entscheidend ist, dass diese Gründe sehr unterschiedlich verteilt sind. Ich war vor Kurzem bei einem Event für Jugendliche, bei dem der Redner, mit besten Absichten, die anwesenden Jugendlichen aufforderte ‚frohen Mutes in die Zukunft zu blicken‘. Dieser Wunsch ist jedoch etwas völlig anderes, wenn man, nachdem man ihn gehört hat, in ein Haus mit Garten zurückgeht und sich freut, die Eltern wiederzusehen oder hungrig in ein Hochhaus und hofft, dass die Eltern nicht da sind. Nicht jede*r kann sich auf das erwachsen werden freuen, nicht jeder kann sich um das Gemeinwohl kümmern und dass dem so ist, hat strukturelle Gründe.“ 

Sandermann weist darauf hin, dass diese Strukturen nur verändert werden können, wenn zwei geradezu entgegengesetzte Dinge erreicht werden: „Es braucht gesellschaftliche Stabilität bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Offenheit für Entwicklungsperspektiven.“ Damit das gelingt ist Vertrauen zentral. „Man sieht das überall – alles wird schlechter, wenn sich gesellschaftliches Misstrauen breit macht. Dieses Misstrauen trifft immer besonders Minderheiten, die es eh schon schwer haben, darunter eben auch Kinder und Jugendliche. Vertrauen ist ein rares, aber gerade in Krisenzeiten unverzichtbares Gut und es lässt sich nicht einfordern, sondern nur situationsspezifisch und als Prozess entwickeln. Junge Menschen brauchen zur Vertrauensbildung Mitmenschen, Organisationen und Institutionen, die sich als vertrauenswürdig erweisen.“

Der 17. Kinder- und Jugendbericht 2024 wurde im September veröffentlicht und im November bei einer Tagung des Familienministeriums und der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe erstmals mit der breiteren Öffentlichkeit diskutiert. 

In seiner Forschung setzt sich Prof. Dr. Philipp Sandermann immer wieder mit Fragen der gesellschaftlichen Transformation (darunter Flucht und Einwanderungsgesellschaft) und der Interessensvertretung von besonders unterstützungsbedürftigen jungen Menschen (zum Beispiel durch Ombuds- und Beschwerdestellen) auseinander. In den letzten Jahren hat er zudem verstärkt zum Thema Vertrauen geforscht, das im Mittelpunkt des Kinder- und Jugendberichts steht. Hierzu hat er gemeinsam mit Vanessa Schwenker auch einen PodCast produziert. Sein „Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit“ ist mittlerweile zu einem Standardwerk der sozialpädagogischen Lehre geworden. Neben seiner Forschung ist Philipp Sandermann u.a. Vorstandsmitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe sowie Herausgeber des „International Journal of Social Pedagogy“.