Von der Anerkennung indigener Epistemologien
Einzigartige LIAS-Konferenz bringt erstmals Indigene und Museumsvertreter zu Forschungsgesprächen zusammen
02.05.2025 Die LIAS Intervention „Beyond Restitution: Indigenous Practices, Museum, and Heritage“ brachte erstmalig Vertreter*innen indigener Gemeinschaften aus Lateinamerika und Museumskurator*innen zusammen, um indigene Perspektiven auf das Kulturerbe, die museale Sammlungspraxis und die Restitution von Kulturgütern zu diskutieren. Ziel war es, die Diskussionen über eine Rückgabe von kulturellem Erbe zu erweitern und eine differenzierte wissenschaftliche Diskussion über indigene Wissenspraktiken, die Bedeutung von Objekten und deren Beziehungen zu Regionen und Landschaften sowie Gemeinschaften zu führen.
Bei der Begrüßung und Eröffnung durch Susanne Leeb, Co-Direktorin des LIAS, Fernanda Pitta, Professorin der Forschungseinheit für Kunst, Theorie und Kritik des Museums für Zeitgenössische Kunst der Universität São Paulo und Principal Investigator im Forschungsprojekt „Decay Without Mourning: Future Thinking Heritage Practices" sowie Bruno Moreschi, LIAS Fellow und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt “Decay Without Mourning: Future Thinking Heritage Practices“ betonte Pitta, dass Restitution nur ein Teil einer umfassenderen Debatte über das kulturelle Erbe sei, welches als eine dynamische Praxis verstanden werden müsse. Sie hob hervor, dass Verfall (decay) als kreativer und transformativer Prozess verstanden werden müsse, der selbst einen Teil der Erzählungen über kulturelles Erbe darstelle. LIAS Fellow Bruno Moreschi thematisierte, wie ihre Projekte im Zusammenhang mit „Decay Without Mourning: Future Thinking and Hertitage Practices“ untersuchen, wie technologische Prozesse in verschiedenen Kontexten – einschließlich indigener Gemeinschaften – funktionieren. Er machte darauf aufmerksam, dass indigene Objekte nicht nur Artefakte seien, sondern auch Werkzeuge mit spezifischen Funktionen und Bedeutungen.
In ihrer von Fernanda Pitta moderierten Präsentation kritisierte Francy Baniwa, brasilianische Anthropologin, Forscherin und Künstlerin, Içana River, Amazonas die Rolle der Museen bei der Darstellung indigener Objekte, die für sie eine lebendige Bibliothek und ein Wissensreservoir sind. Sie würden häufig nur durch allgemeine Informationen wie Größe und Herkunftskontinent erfasst, ohne ihre kulturelle Bedeutung zu verstehen. Ihre Gemeinschaft hat deshalb eine eigene Sammlung aufgebaut, um die musealen Objekte aus einer indigenen Perspektive neu zu deuten. Ein zentrales Anliegen ihrer Arbeit ist es, diese Erkenntnisse als eine Wissenschaft anzuerkennen, die innerhalb der Gemeinschaft tradiert wird – besonders durch Frauen. Ferner rief sie dazu auf, die Zusammenarbeit mit Forschenden als gleichberechtigten Dialog zu gestalten, indem indigene Forschende aktiv in den Forschungsprozess eingebunden würden. Erst dann könne davon gesprochen werden, dass sich die Museum Studies von westlichen Perspektiven lösen und die aktuellen materiellen und immateriellen, sozialen und kollektiven Bedeutungen der Objekte aus Sicht der Herkunftsgemeinschaften respektieren.
Die brasilianische Künstlerin Glicéria Tupinambá, die ihr Heimatland im vergangenen Jahr bei der Biennale in Venedig vertrat, lehnte in ihrer von Bruno Moreschi moderierten Präsentation ebenfalls den Begriff „Objekte“ ab und sprach stattdessen von „Vorfahren“. „Wenn ich in einem Museum bin, fühle ich eine ‚kosmische Agonie‘“, sagte Tupinambá. „Wie kann ich mit diesen Objekten kommunizieren, und sie für Besucher übersetzen?“ Ihr künstlerischer und wissenschaftlicher Ansatz zielt darauf ab, die Herstellungsprozesse der Objekte als zentrale Bestandteile ihres kulturellen Werts sichtbar zu machen, weil sie in den verwendeten Materialien, den Herstellungswerkzeugen und in den Objekten selbst „Signaturen“ der Hersteller*innen sieht, zu denen häufig Frauen zählen. Auch Tupinambá kam zu dem Schluss, dass es einer neuen musealen Praxis bedarf, die biografische und rituelle Dimensionen von Objekten in den Vordergrund stelle. An die westlichen Museen erging ihre Forderung, indigenen Forscher*innen Raum zu geben, ihre kontinuierliche Wissensweitergabe und spirituellen Verbindungen aus ihrer eigenen Perspektive mit den Objekten umzusetzen.
Sebastián Eduardo Dávila, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leuphana, stellte den Mapuche Filmemacher Francisco Huichaqueo und eine Gruppe indigener Künstler*innen und Wissenschaftler*innen vor. Die Gruppe hatte bereits im Berliner Humboldt Forum Objekte ihrer Mapuche-Kultur gesehen. „Ich habe keine Worte, diese Begegnung zu beschreiben,“ so Huichaqueo, „vielleicht aus Wut.“ Er sprach über den „epistemischen Diebstahl“ der Objekte, der mit der Aneignung indigener Kulturgüter einhergehe. Die westlichen Konservierungskonzepte würden die lebendige Verbindung zwischen den Objekten und ihren Herkunftsgemeinschaften zerstören: „Was bewahren sie und was bewahren wir? Die Objekte sind für uns, sie haben einen Geist und sie existieren immer noch mit all ihren Traumata.“ Damit sprach Huichaqeo andauernde koloniale Erschütterungen an, die sich in den Dingen zeige, die für sie keine Gegenstände sind, sondern spirituelle und kulturelle Verbindungselemente mit eigener Handlungsfähigkeit. Der Widerstand gegen westliche Praktiken manifestiere sich unter anderem in der Forderung nach kuratorischer Autonomie indigener Forschender und Künstler*innen. Dies hat nicht zuletzt politische Dimensionen: Denn selbst wenn die Objekte nach Chile zurückkehrten - ein notweniger Schritt, da sie die Basis ihres Ökosystems sind -, würden die Mapuche sie nicht unbedingt erhalten, da der Chilenische Staat sich dafür kaum interessiert.
Mama José Shibulata Zarabata Sauna und José Manuel Sauna Mamatacan, Vertreter der Kággaba aus der Sierra Nevada de Santa Marta, Kolumbien argumentierten, dass die Rückgabe von Objekten untrennbar mit territorialer Souveränität verbunden sei. Indigene Objekte seien Lebensformen, die in ihren Ursprungskontexten wirken müssen, um ihre soziale Funktion zu erfüllen: „Es ist eine Frage von Leben und Tod“, sagte der Würdenträger Mama José Shibulata Zarabeta Sauna. „Nicht bei uns beginnt die Autorität, sondern bei den Objekten. Deshalb nennen wir sie einen heiligen Ort. Alles ist miteinander verbunden. Wenn wir sie zurückfordern, so verteidigen wir Wälder, Flüsse, Berge. Die Objekte müssen dort sein, wo sie hingehören. Sie müssen wieder in ihren heiligen Ursprungsort integriert werden, denn sie werden irgendwann etwas aussagen.“ Daher sehen die Kággaba in Restitutionsbemühungen eine lebenslange Aufgabe, die mit der Heilung von Gemeinschaften und der Wiederherstellung indigener Wissenssysteme verknüpft ist. Dies sei nicht zuletzt gerechtfertigt durch das Jahrtausende alte Wissen, das er und seine Gemeinschaft den westlichen Museen und Gesellschaften zur Verfügung stellten.
In der Abschlussdiskussion wurden gemeinsame Perspektiven entwickelt. Es wurden aber auch aktuelle Grenzen der Umsetzung von Forderungen thematisiert, die nicht zuletzt in Fragen des Besitzes und der Zugehörigkeit, der unterschiedlichen Bedeutung der Kulturgüter und Umgangsweisen mit ihnen und in bürokratischen und legalen Hindernissen liegen. Für viele, die zum Teil auch erstmalig in Europa waren, stellte sich die grundsätzliche Frage, was der Wert der Objekte in einer europäischen Kultur überhaupt sei. Denn die wenigsten hier Lebenden hätten eine lebendige Verbindung zu ihnen, sie sind nicht Teil ihrer Wissens- und Ahnenkultur, ihrer Kosmologien, ihres Ökosystems und Territoriums und ihrer sozialen Beziehungen, die sich über die Objekte herstellen. Alle Teilnehmer*innen waren sich einig, dass die Aneignung der meisten Objekte als Akt der Gewalt gewertet werden müsse. Daher müssten Museen, die sich ihrer kolonialen Vergangenheit bewusst sind, aktiv mit den Herkunftsgemeinschaften zusammenarbeiten, wobei die Vertreter*innen der indigenen Gemeinschaften Entscheidungshoheit reklamierten. Ferner sollten indigene Kurator*innen und Forschende in Entscheidungsprozesse eingebunden werden und für eine richtige Einordnung von Objekten, für andere Archivierungs- und Präsentationspraktiken sorgen. Dies sei nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Dekolonisierung des Wissens, die indigenen Epistemologien und Sprachen in wissenschaftlichen und musealen Institutionen anerkenne. Dabei ist allen Expert*innen klar, dass Restitution ein offener, langfristiger Prozess ist, bei dem die Rückgabe von Objekten nicht die Vollendung, sondern einen Teil der fortlaufenden Neuverhandlung von Beziehungen zwischen Museen und indigenen Gemeinschaften darstelle. Denn Restitution ist weit mehr als die Rückgabe von Gegenständen. Mehr als einmal wurde deutlich, dass es vor allem darum geht, eine zerstörte Beziehung und Balance wieder herzustellen.
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- Dr. Christine Kramer