Musik als Risiko. Das Leuphana Concert Lab

25.01.2024 Konzerte sind kein Risiko. Dieses schon. Sonst geht man zu einem Kulturort, zeigt ein Ticket vor, setzt oder stellt sich hin und hört zu. Die Mitwirkenden des Projekts „Leuphana Concert Lab“ probierten etwas völlig anderes aus – ein Kunstevent, das wie ein Experiment in einem Lab(oratorium) sein könnte. Das Publikum gab ihnen recht.

©© 2024 beyond portrait, all rights reserved.
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Der Konzertabend unter dem Titel „Connecting“ am 18.1. bildete den Abschluss des ersten Concert Lab-Seminars, das in Kooperation mit Steinway & Sons als Praxispartner durchgeführt wurde. Der junge aus dem Iran stammende Pianist Arash Rokni war nach seinem Erfolg beim Bach-Wettbewerb Leipzig für die Zusammenarbeit vorgeschlagen worden und sagte zu. Der Arbeitsauftrag an den Pianisten und das Seminar: Gemeinsam einen Konzertabend rund um „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gestalten und das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Ein Semester lang haben die Studierenden aus den unterschiedlichen Fachbereichen im Komplementärstudium das Thema diskutiert, verschiedene Konzerte als Beispiele besucht und sich mit Künstler*innen ausgetauscht, um einen eigenen Konzertabend auf die Beine zu stellen. Parallel dazu hat sich ein kulturwissenschaftliches Seminar mit neuen Ansätzen der Publikumsforschung beschäftigt und begleitete den Konzertabend mit eigenen Forschungsprojekten.

Unter den rund 200 Gästen waren viele Studierende der Leuphana, aber auch interessierte Lüneburger*innen. Die ersten Ergebnisse aus dem Publikumsgespräch und der Umfrage zeigen, dass die Bandbreite unter den Besucher*innen sehr groß war – nicht nur das klassische Stammpublikum war zum Konzert gekommen, sondern auch viele insbesondere junge Menschen, die sich sonst als Nicht-Besucher*innen bezeichnen würden.
 

Zu neuen Mustern

Arash Rokni erklärte im Gespräch, dass er sich als Künstler nicht als objektiver Betrachter, sondern als Teil der Gesellschaft sehe. Daher hat er gemeinsam mit den Studierenden Komponist*innen ausgewählt, die in ihrem kreativen Schaffen durch gesellschaftliche Spaltung eingeschränkt oder aus unterschiedlichen Gründen aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden waren. Die Rolle von Künstler*innen sieht er in der heutigen Zeit einer fortschreitend individualisierten Gesellschaft darin, die Vernetzung und Abhängigkeit des Individuums von seinen Mitmenschen aufzuzeigen und einen Beitrag zum Bewusstsein seines Publikums zu leisten. Zwei Sprecher*innen aus dem Seminar ergänzten die Musik um Regieanweisungen, Zitate und Lyrik. Darüber hinaus hatten die Studierenden zwei Tänzer*innen eingeladen, die Hindemiths „Suite 1922“ inszenierten, und gesellschaftliche Dynamiken, Konflikte, Spaltung und Ausstoßen Einzelner aus der Gesellschaft sozusagen ver-Körper-ten.  „Das Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ständig in aller Munde, jedoch haben die wenigsten eine klare Vorstellung davon“, sagte eine Seminarteilnehmerin, „obwohl wir alle Toleranz vermitteln wollen, ist doch jede*r unterbewusst in seiner*ihrer Blase unterwegs und es fällt uns schwer, alte Muster zu verlassen.“

Der Musikteil begann mit Élisabeth Jacquet de la Guerre und Georg Muffat, beide Barockkomponisten, deren Stücke epochentypisch aufgeräumt und eingängig klingen und dadurch das Publikum zum Innehalten und Sich-finden einluden. Umso stärker wirkte der Kontrast zur darauffolgenden Musik von Paul Hindemith, Dmitri Schostakowitsch und Alexander Mossolow - Komponisten der Moderne, deren Stücke fordern und die Sicherheit vertrauter Harmonien hinter sich lassen. Man hört ihnen den Prozess des zunehmenden gesellschaftlichen Konflikts, des Ausstoßens, der Spaltung und Vereinsamung des 20. Jahrhunderts deutlich an.

Dabei wurden die bestehenden Gruppen im Publikum durch Regieanweisungen getrennt, zum Schließen der Augen oder Platzwechsel aufgefordert oder sollten die Szene nur noch vom Rand betrachten. Es folgte eine Phase der Reflexion. Was hat sich verändert? Wie fühle ich mich? Mit kleinen Lichtern konnte das Publikum seine Zustimmung zu auf Leinwände projizierten Gedanken äußern und so sehen, dass es mit den anderen vielleicht doch mehr gemeinsam hat als gedacht. Das Forum des Zentralgebäudes war während dieses Nocturnes von Fanny Hensel vollständig abgedunkelt, man sah fast nur diese kleinen, beweglichen Lichter und merkte erst als es vorbei war, dass man die ganze Zeit über Gänsehaut hatte.
 

Probbares und Unprobbares

Danach wurde das Publikum aufgefordert, sich während der „Musical Toys“ von der zeitgenössischen Komponistin Sofia Gubaidulina frei im Raum zu bewegen, sich wieder anzunähern, unvoreingenommen zu begegnen, mit Neugier das Umfeld und andere zu betrachten. Der Begriff „Spiel“ umfasst im Deutschen sowohl das Spielen mit einem Spielzeug (Toy), wie auch spielerische Bewegung (wie beim Tanz) als auch musikalisches Spielen: Wie können wir es somit schaffen, dass wir uns wahrhaftig zuhören und einander wahrnehmen? Die Studierenden hatten sich auch mit dieser Frage beschäftigt und sie musikalisch übersetzt – das Publikum wurde angeleitet, zunächst ohne Rücksicht auf andere dissonant zu summen und sich dann Schritt für Schritt durch Zuhören auf einen gemeinsamen Klang zu einigen. So etwas kann man nicht proben. Man kann auch nicht ausschließen, dass das Publikum (noch nicht einmal anfängt zu diskutieren, sondern ganz einfach) nicht mitmacht. Doch dieses Risiko war fester Teil des Konzertprogramms. Wie reagiert das Publikum auf die Anweisung, sich frei im Raum zu bewegen? Fängt es an zu summen, wenn es dazu aufgefordert wird? Die Veranstalter*innen beeindruckte, wie offen das Publikum auf diese Anweisungen reagierte, wie es diese aktiv interpretierte und den Raum für sich entdeckte, erschloss, in Anspruch nahm. Einige Gäste stellten sich die Lichter auf den Kopf, viele nutzten die bewegten Phasen, um Arash am Flügel aus nächster Nähe zu beobachten, einige legten sich auf den Boden. Die Zuhörer*innen waren auch ermutigt worden, andere kennenzulernen und sich auszutauschen.

Positiv überraschend war, dass das wirklich komplexe Repertoire auch von denjenigen, die sich eher als Nicht-Besucher*innen bezeichnen, als zugänglich und spannend wahrgenommen wurde. Im Nachgespräch wurde zudem deutlich, dass die Dramaturgie und das Setting – verglichen mit dem Konzerterlebnis in einem klassischen Klavierrecital – für das Publikum zu einem großen Unterschied im Erleben und Reflektieren beigetragen haben. Und nicht nur für das Publikum: Auch Arash Rokni erklärte, dass für ihn der Kontakt zum Publikum viel stärker fühlbar war und es für ihn ein einzigartiges Konzerterlebnis gewesen sei.

Weitere Infos

Das Leuphana Concert Lab ist ein transdisziplinäres Projektvorhaben in Zusammenarbeit mit Wissenschafts- und Praxispartnern. Es ist als Pilotprojekt über drei Jahre angelegt und bringt künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten mit Perspektiven anderer Wissenschaftsdisziplinen zusammen: Wir möchten uns den gesellschaftlichen „Grand Challenges“ widmen, diese mit Musiker*innen und Studierenden co-kreativ bearbeiten und an das Publikum vermitteln.

Im Bereich der Lehre werden seit dem Wintersemester neue didaktische Formate erprobt. Ziel ist es, mehrere Module zu entwickeln und im Komplementärstudium als festes Angebot zu implementieren. Auch in den kommenden Semestern werden die Studierenden an unterschiedlichen Concert Lab-Seminaren teilnehmen können.

Kontakt

  • Prof. Dr. Sigrid Bekmeier-Feuerhahn
  • Lea Jakob