Neu an der Leuphana: Prof. Dr. Ellen Kollender - „Flucht ist kein Sonderfall“

04.07.2024 Die Juniorprofessorin für Inklusion und Diversität forscht zu Diskriminierung, Partizipation und der inklusiven Gestaltung von Bildungsräumen und -institutionen in der Migrationsgesellschaft. Sie plädiert für eine intersektionalitätssensible Schulentwicklung und Sozialpädagogik.

©Marietta Hülsmann
„Wenn in Deutschland über bestehende Bildungsungleichheiten diskutiert wird, liegt der Verweis auf das Elternhaus der Schüler*innen oft nicht fern“, erklärt Prof. Dr. Ellen Kollender.
Warum sollten aus Ihrer Sicht, Schulen nicht als geschlossene Institutionen betrachtet werden?
Schule ist ein Raum sozialer Aushandlung. Auch transnationale Konflikte, Kriege und damit verbundene Fluchtmigrationen sind Teil der Welt vieler Schüler*innen. Mit gesellschaftlichen Pluralisierungsprozessen sind oft Dynamiken von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus verbunden. Das wirft auch Fragen für Schule, Bildung und die sozialpädagogische Arbeit auf. In meiner Forschung gehe ich diesen Dynamiken, hiermit verbundenen institutionellen Ein- und Ausschlüssen sowie den Mechanismen, Ursachen und Folgen von Diskriminierung in pädagogischen Handlungsfeldern nach.
Welche Rolle spielt Diskriminierung für bestehende schulische Bildungsungleichheiten?
In meiner Doktorarbeit habe ich mir das Verhältnis von Eltern und Schulen in der Migrationsgesellschaft näher angesehen. Wenn in Deutschland über bestehende Bildungsungleichheiten diskutiert wird, liegt der Verweis auf das Elternhaus der Schüler*innen oft nicht fern. Neben dem ›sozialen Hintergrund‹ wird in dieser Debatte häufig auch der ›Migrationshintergrund‹ von Familien als zentrale Einflussgröße auf den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen angeführt. Dabei werden oft stereotype, teils klassistische und rassistische Sichtweisen auf Familien in unterprivilegierten Lebenslagen und/oder mit Migrationsgeschichte befördert. Diese tragen jedoch wenig zur Aufklärung von Bildungsungleichheiten bei. In meiner Arbeit habe ich in Schule vorherrschende Selbstverständnisse hinsichtlich Eltern mit Migrationsgeschichte offengelegt und rekonstruiert, wie diese das Handeln von Pädagog*innen sowie (subtile) Ausschlüsse im Schulsystem anleiten. Auch in diesen Ausschlüssen liegen Ursachen von Bildungsungleichheiten begründet.
Wie sind Schulrankings in diesem Zusammenhang zu bewerten?
Die über Schulrankings veröffentlichten Leistungsdaten legen den (Kurz-)Schluss nahe, dass die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft einer Schule in einem engen Zusammenhang mit den Schulleistungen steht. Diese Rankings sind auch Ausdruck der Schul- und Bildungsreformen der letzten 20 Jahre, die – gewollt oder nicht – zu einem stärkeren Wettbewerb zwischen Schulen beigetragen haben. Gerade an innerstädtischen Schulen fragen Schulleitungen mehr und mehr: Wie stellen wir uns so auf, dass wir in diesen Rankings möglichst gut performen? Über Praktiken eines sogenannten cream skimmings versuchen einige Schulen besonders leistungsstarke Schüler*innen zu gewinnen, während vermeintlich leistungsschwache Schüler*innen zum Teil gar nicht erst an den Schulen aufgenommen werden. Dabei kommen auch rassistische Logiken zum Tragen.
In einem aktuellen Forschungsprojekt untersuchen Sie, wie sich Lehrkräfte auf geflüchtete Schüler*innen aus der Ukraine vorbereitet fühlen. Wie empfinden die Lehrkräfte die Situation?
Wir untersuchen die Situation an weiterführenden Schulen in verschiedenen Regionen Deutschlands. Dabei fragen wir auch nach Lernprozessen, die sich an den Schulen im Zuge der großen Fluchtmigrationen des letzten Jahrzehnts vollzogen haben. Eines unserer Ergebnisse ist, dass sich viele Pädagog*innen nach wie vor nicht gut vorbereitet fühlen und – trotz der Erfahrungen von 2015/2016 – die Ankunft der geflüchteten Schüler*innen als etwas erlebten, das unvorhersehbar auf ihre Schulen einbrach. Somit wird auch die Ankunft der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine erneut nicht als selbstverständlicher Teil der Aufgabe von einem Schulsystem bearbeitet, das sich an den migrationsgesellschaftlich verändernden Realitäten ausrichten muss. Flucht ist kein Sonderfall.
Sie beschäftigen sich mit den Fluchtmigrationen nicht nur aus einer nationalen, sondern auch internationalen Perspektive. Was haben Sie sich hier genau angesehen?
Ich habe lange in Istanbul zur Bildungssituation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen an der Grenze zur Europäischen Union geforscht. Mit Blick auf außerschulische Bildungsprojekte lag ein Schwerpunkt darauf, Visionen, Konzepte und Strategien der hier tätigen pädagogischen Akteure hinsichtlich der Gestaltung inklusiver Bildungsräume zu rekonstruieren. Dabei wurde deutlich, dass die inklusionsorientierte Arbeit der Akteure z.T. mit den Förderzielen und -logiken der EU kollidiert. Mit wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren aus Deutschland, Griechenland und der Türkei stehe ich darüber im Austausch, wie transnationale Bildungsbiographien von geflüchteten Schüler*innen über nationalstaatliche Grenzen hinweg diskriminierungssensibel begleitet werden können.
Wie bringen Sie diese Beobachtungen in Ihre Lehre ein?
In dem Seminar „Engaged Pedagogy across Borders“ beschäftigen wir uns beispielsweise mit mehrdimensionalen Bildungsausschlüssen von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in EU-Grenzräumen. Was macht es also mit Kindern und Jugendlichen, wenn sie in einem Geflüchtetenlager zur Schule gehen? Die Situation dort als Ausdruck globaler Unrechtsverhältnisse zu reflektieren, mich in diesen Verhältnissen zu verorten, diese bei der Entwicklung meiner pädagogischen Haltung mitzudenken, ist für die Studierenden Teil der Reflexionsaufgabe.
Was sollten angehende Lehrkräfte und Sozialpädagog*innen mit in die Schule nehmen, um eine diskriminierungskritische Professionalität zu entwickeln?
Zu dieser Frage ließe sich viel aufzählen. Unter anderem erscheint mir ein Verständnis des Konzepts der Intersektionalität wichtig, das auf die Verschränkung von Diskriminierungsformen, -erfahrungen und -ebenen sensibilisiert und pädagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft zu einer komplexen Aufgabe macht. Dabei geht es weniger um technisches Wissen, sondern vielmehr darum, eine Haltung zu entwickeln. Pädagogische Professionelle, die eine solche Haltung entwickeln konnten, fühlen sich den gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsanforderungen deutlich besser gewachsen.
Vielen Dank für das Gespräch!

Ellen Kollender studierte Politikwissenschaft und war Promotionsstipendiatin bei der Hans-Böckler-Stiftung. Bis 2019 forschte sie am Arbeitsbereich der interkulturellen und vergleichenden Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Danach ging sie als Mercator-IPC-Fellow an die Sabancı University in Istanbul. Ab Mai 2022 vertrat Ellen Kollender die Professur für Heterogenität, Fachbereich für Allgemeine Erziehungswissenschaft, an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Im April 2024 übernahm sie die Juniorprofessur für Inklusion und Diversität an der Leuphana Universität Lüneburg.

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