Ukraine-Krieg – Dr. Alexandr Burilkov: „Kein Frieden ohne Abschreckung“

15.10.2024 Der Politikwissenschaftler Dr. Alexandr Burilkov hat gemeinsam mit Forschern des Kieler Instituts für Weltwirtschaft die Rüstungsproduktion Deutschlands und Russlands verglichen: Die ehemalige Sowjetrepublik verfüge nicht nur über weitaus mehr Waffen im Verhältnis zur Bevölkerung als Deutschland, sondern auch über eine staatlich geführte, forschungsintensive Rüstungsindustrie, die weitaus schneller produziere als der Westen, sagt Alexandr Burilkov und argumentiert: Die europäischen Länder müssen ihre Kräfte bündeln – und schneller aufrüsten.

©Dr. Marietta Hülsmann I Leuphana
Der Politikwissenschaftler forscht zur Kriegstüchtigkeit Deutschlands.

Herr Dr. Burilkov, Deutschland hat über Jahrzehnte abgerüstet. Wie schätzen Sie die Zahlen ein?

Ein Beispiel: 1990, am Ende des Kalten Krieges, hatte die Bundeswehr 4167 Panzer, 2004 waren es noch 2398. Heute sind es 339. Diese Entwicklung halte ich für bedenklich, denn dieser Trend betrifft alle Waffengattungen – vor allem nachdem viel Material an die Ukraine geliefert wurde.

Wie gut ist Russland im Vergleich ausgerüstet?

Das russische Militär war zu Beginn des Krieges nicht vollständig modernisiert und kämpfte mit vielen älteren Waffen aus der Sowjetzeit. Diese älteren Systeme werden zunehmend durch moderne ersetzt. Es gibt eine staatlich geführte, forschungsintensive Rüstungsindustrie. Die neu entwickelten Waffen werden sozusagen in der Ukraine getestet. Umgekehrt können die Russen Innovationen, die aus der Ukraine kommen, in wenigen Wochen kopieren. Wenn die russische Rüstungsindustrie etwas bauen will, kann sie es.

Wie sah die Methodik Ihrer Untersuchung aus?

Wir analysieren, welche russischen Einheiten in der Ukraine kämpfen und welche Waffensysteme kontinuierlich bereitgestellt werden müssten, um diese Einheiten kampfbereit zu halten. Seit Herbst 2022 hat das russische Militär seine Fähigkeiten drastisch erhöht und ist nun dem russischen Militär vom Februar 2022 quantitativ und qualitativ überlegen. So hat das russische Militär beispielsweise die ukrainische Sommer-Gegenoffensive 2023 abgewehrt und ist seitdem an der meisten der 1200 km langen Frontlinie in der Offensive. Anhand der Daten über die in der Ukraine kämpfenden russischen Einheiten können wir die Produktionsraten der russischen Verteidigung schätzen. So produzierte Russland 2023 etwa 1000 Panzer. Im Jahr 2024 wird die Panzerproduktion auf 1500 steigen. Ähnliche Steigerungen beobachten wir bei allen anderen Waffensystemkategorien, wie Haubitzen und Luftabwehr.

Was bedeutet das für die deutsche Rüstungsindustrie?

Deutschland hat im Mai 2023 zwölf Panzerhaubitzen bestellt. Das ist ein Boutique-Auftrag – wie in vielen anderen europäischen Ländern üblich. Mit diesem nationalen Ansatz wird man nicht weiterkommen. Europa muss gemeinsam aufrüsten. Größere Aufträge senken die Kosten. Es stabilisiert auch die Rüstungsindustrie in Europa und kann für ein rasches Wirtschaftswachstum sorgen: Militärforschung hat oft zu bahnbrechenden Innovationen geführt. Internet, Computer, Laser und Satelliten gäbe es ohne Rüstungsindustrie nicht. Von Forschung profitiert eine Gesellschaft also auch in Friedenszeiten. Die Russen lassen uns hinter sich. Die Lage in der Ukraine ist sehr beunruhigend, und nicht nur dort. Europa muss investieren, um verteidigungsfähig zu werden.

Was entgegnen Sie Menschen, die weniger Waffen fordern?

Friedliche und diplomatische Lösungen sollten unsere wichtigsten Instrumente bleiben. Aber revisionistische Akteure wie Russland schaffen Instabilität, wenn sie feindselig und hypermilitarisiert werden. Es ist einfach klug, vorbereitet zu sein. Abschreckung führt zu dauerhaftem Frieden. Der Kalte Krieg wurde nie heiß. Außerdem wird der Krieg in der Ukraine irgendwann enden. Aber die Rüstungsproduktion Russlands wird nicht aufhören. Es ist zu erwarten, dass Russland dann mehr Waffen exportieren wird – vor allem an die Feinde des Westens.

Vielen Dank für das Gespräch!