Opening Days des Leuphana Institutes for Advanced Studies (LIAS) of Culture and Society

Wer mit schnellen Lösungen die Probleme der Gegenwart angeht, übersieht ihre historische Gewordenheit. Das LIAS setzt auf Kritik, Imagination und die Freilegung des Übersehenen.

14.06.2023 Alain Pottage, Rechtswissenschaftler an der Science Po in Paris und Beiratsmitglied des soeben eröffneten Leuphana Institutes for Advanced Studies (LIAS) in Culture and Society fragte die Gäste der feierlichen Eröffnung, ob sie die „intellektuelle Energie“ spürten, die den speziellen Geist des LIAS ausmache. Mit einer generativen Kollegialität, so Pottage, gelinge es dem Team, eine Dynamik und Ökologie sowie jenen Rahmen zu schaffen, den die Gemeinschaft des LIAS aus seiner Sicht belebt.

Openig Days des Leuphana Institutes for Advanced Studies (LIAS) of Culture and Society ©Leuphana
Openig Days des Leuphana Institutes for Advanced Studies (LIAS) of Culture and Society ©Leuphana
Openig Days des Leuphana Institutes for Advanced Studies (LIAS) of Culture and Society ©Leuphana

Was dies bedeutet, konnte Pottage gleich selbst erläutern. Eine Art, Querfragen zu stellen, die unterschiedliche gesellschaftliche Felder überschreiten, sah er in einem Barcamp mit Senior Fellow Radha d’Souza am Nachmittag des Vortages verwirklicht. Was die Rechtswissenschaftlerin von der Westminster Universität in London den Studierenden offeriere, sei kein Wissen, sondern eine wissenschaftliche Technik des Forschens und Fragens.

Nachdem sie in Arbeitsgruppen gängige Erklärungsmuster der Klimakrise - als Wetterphänomen, als Folge des Anthropozäns oder als Ziel politischer Abkommen, etwa das Kyoto-Protokoll – beleuchtet hatten, überraschte d’Souza die Studierenden mit ihrer These, die Klimakrise sei in unserem Rechtverständnis verwurzelt, genauer, in der Rechtsgrundlage von Unternehmen als „Körperschaften“. Dies auszuarbeiten ist Gegenstand ihres Projektes am LIAS in Culture and Society.

Anders als in der Überschreitung von akademischen Disziplinen lassen sich die Probleme der Gegenwart, so sind die Direktor*innen des LIAS, Susanne Leeb und Erich Hörl überzeugt, nicht angehen. Im ersten Institute for Advanced Studies der Leuphana Universität sei Interdisziplinarität die Antwort auf die globale Verflechtung von sozialen, technologischen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Phänomenen.

Ein Motto des LIAS, „Thinking across Hemispheres“, bringt dies appellierend auf den Punkt, geht es doch darum, globale Verflechtungen zu erkennen und frei zu legen. Eine zentrale Collage des LIAS basierend auf einer NASA-Aufnahme des Globus sowie der Epstorfer Weltkarte bringe diese Verbindung zum Ausdruck, so Leeb. ©Collage: Niklar Keller; NASA (1972); Ebstorf World Map (um 1300), gemeinfrei via wikimedia; Daniel Sumesgutner
Ein Motto des LIAS, „Thinking across Hemispheres“, bringt dies appellierend auf den Punkt, geht es doch darum, globale Verflechtungen zu erkennen und frei zu legen. Eine zentrale Collage des LIAS basierend auf einer NASA-Aufnahme des Globus sowie der Epstorfer Weltkarte bringe diese Verbindung zum Ausdruck, so Leeb.

Häufig seien die komplexen Verflechtungen verborgen – und hier liege der Startpunkt einer Forschung in Sinne das LIAS, denn früher oder später erreiche jede Forschungsfrage den Punkt, an dem Verbindungen von Phänomenen, Menschen und Leben zum Vorschein kommt. Daher habe sich das LIAS einem weiteren Motto verschrieben: „Co-existence in a globalized world“.

Ein gutes Beispiel lieferte Lydia Ouma Radoli, welche die erste „LIAS Intervention“ mit Journalist*innen aus Deutschland, Amerika, Kenia, Uganda und Ruanda führte. Das Format vernetzt gezielt LIAS-Fellows mit außerakademischen Akteuren. Basierend auf Radolis Forschungsprojekt „The Visual Witnessing of Trauma Phenomena among Journalists“ kamen hier Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zusammen, um über die Bedingungen und Folgen traumatisierender Krisen- und Kriegsberichterstattung zu diskutieren. Es sei nötig, über alternative Formate in der Medienproduktion nachzudenken, die Trauma-Erfahrungen von Journalisten entmenschlichen und trivialisieren, sowie die Forschung zu intensivieren, war ein zentrales Ergebnis des offenen Austauschs.

Welche Rolle den Sozial- und Geisteswissenschaften in diesen sozialen Gegebenheiten zukommt, die zudem von einer unaufhörlichen Beschleunigung geprägt sind, betonte Erich Hörl. Die Kurzschlüsse zwischen Problem und Lösung, die zudem noch von einer Strategie des Solutionismus befeuert würden, – die technische Generierung von Lösungen, bevor man das Problem definiert hat –habe längst Forschung und Lehre erfasst. Hier nur auf eine Reflexion zu setzen, so Hörl, sei zu wenig. Viel dringender brauchten die Sozial- und Geisteswissenschaften eine Stärkung der „Fähigkeit, zu streben“ (Arjun Appadurai), um eine wünschenswerte Zukunft formulieren zu können. Dies soll am LIAS geleistet werden mit Kritikfähigkeit, Imagination und der Einbindung von Menschen, die Denk- und Lebensweisen in Frage stellen. Dass es „keine Alternativen“ gibt, so Hörl, sei seit den 1970er-Jahren eine dominierende Doktrin, der das LIAS die Produktion von Möglichkeiten und Problemen entgegensetzen möchte. Statt einer Dynamik der Lösungsgenerierung zu erliegen, müssten die Sozial- und Geisteswissenschaften generieren, was übersehen oder verzerrt wurde. Im Hinblick auf kybernetische Prozesse der digitalisierten Gegenwart bedeute dies etwa – und hier bezog sich Hörl auf das Forschungsprojekt eines der Fellows, Daniel Nemenyi, – künstliche Intelligenz nicht als Werkzeug der Kontrolle, sondern des Umgangs mit dem Zufall zu verstehen. „Denken bedeutet,“ so Erich Hörl, „das zu schaffen, was noch nicht da ist, übersehen oder durch strukturelle Verzerrungen der Algorithmen verworfen wurde.“