Ideen zum postkolonialen Museum des 21. Jahrhunderts
20.06.2024 Das Leuphana Institute for Advanced Studies (LIAS) in Culture and Society lud gemeinsam mit dem Museum am Rothenbaum Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg zur Konferenz „The Practice of Decolonization: Art, Anthropology, History, and the 21st Century Museum“ ein. International renommierte Expert*innen folgten der Einladung von LIAS Senior Fellows Richard Drayton und Rosalind Morris und beleuchteten unterschiedliche Aspekte ihrer Praxis der Dekolonisierung.
Richard Drayton eröffnete die Veranstaltung und drehte eine gängige Fragerichtung um: Nicht wie hat der Kolonialismus die Welt, sondern wie wurde Europa selbst dadurch geprägt? Diese Frage anzunehmen würde immer noch auf Widerstände stoßen. Umso wichtiger sei es zu untersuchen, wie europäische Kulturinstitutionen noch bis heute in die Gewalt und Ungleichheiten des imperialen Zeitalters verstrickt sind. Rosalind Morris forderte in der Diskussion dazu auf, Objekte als Anregungen für menschliche Erfahrungen zu betrachten und Museen sowohl als Orte der Trauer als auch der Vermittlung zu verstehen – ein Ansatz, den viele der Beitragenden mit jeweils unterschiedlichen Perspektiven teilten.
Der Historiker, Filmemacher und Kurator Pierre Singaravélou, Professor für Globalgeschichte am King‘s College London und für Moderne Geschichte an der Université Paris Panthéon-Sorbonne betonte zunächst die wichtige Rolle von Museen als Orte einer öffentlichen Bildung. Zugleich wies auf die potenziellen Gefahren eines eurozentrischen Ansatzes der Dekolonisierung hin und plädierte für eine globale Perspektive, die auch begriffliche Verschiebungen beinhalten sollte. Am Beispiel des Musée d’Orsay und des Louvre sprach von einer neuen notwendigen Popularisierung von Museen im Sinne einer Pluralisierung und Diversifizierung von Perspektiven.
Ein Fetisch des Originals und ein Wettbewerb um Neuheiten
Der Kontrast zur nächsten Präsentation im Hinblick auf Museumstypen hätte kaum größer sein können: Ein Globalmuseum auf der einen Seite, ein ehemaliges Gefängnis in Südafrika aus der Zeit der Apartheid auf der anderen Seite, das zu einer Erinnerungsstätte umgewandelt wurde. Clive van den Berg, Künstler, Kurator und Designer aus Johannesburg thematisierte das Problem der Objektifizierung in Museen, die Personen mitunter zu Ausstellungsobjekten machten. Vielmehr müssten Museen Orte menschlicher Erfahrung sein und so gestaltet werden, dass die Betrachter*innen Empathie entwickeln. Er berichtete von seiner Zusammenarbeit mit Personen, die staatliche Institutionen und Museen nur als Orte der Unterdrückung erfahren haben. In seiner Arbeit als Ausstellungskurator und -designer ging es vor allem darum, die Würde dieser Personen in und durch eine Repräsentation wieder herzustellen, indem sie ihren Leidenserfahrungen einen öffentlichen Ort geben konnten.
Fernanda Pitta, Professorin für Art Research, Theory and Criticism am Museum für Gegenwartskunst an der Universität São Paulo, kritisierte eine Sammlungspraktik, die auf dem Wunsch nach Besitz beruhten. „Es gibt einen Fetisch des Originals und einen Wettbewerb um Neuheiten“, warnte Pitta, und hob die destruktiven Auswirkungen dieser Praktiken hervor. Sie betonte dagegen, dass sogenannte Objekte in der Wahrnehmung indigener Kulturen vor allem Ahnen, Botschafter, Handlungsmächtige und Teil einer lebendigen Erinnerungskultur sind. In diesem Zusammenhang stellte sie ihre Zusammenarbeit mit der Aktivistin Glicéria Tupinambá vor – im Rahmen eines Projekts, in dem auch LIAS-Fellow Bruno Moreschi, ebenfalls aus São Paulo, mitarbeitet.
Objekte als Vermittler menschlicher Erfahrung
Da sich die Tagung vor allem um konkrete Praktiken der Dekolonisierung drehte, passte die Führung von Christine Chávez, Kuratorin am MARKK, durch die Ausstellung „Weißes Wüstengold. Chile-Salpeter und Hamburg“ hervorragend in das Programm. Christine Chávez stellt vor allem kulturwissenschaftliche Fragen an ihr Archivmaterial, etwa nach den Arbeitsbedingungen in den Salpeterwerken in Chile, nach Geschlechterrollen oder nach Rohstoffausbeutung und entwickelte in der Ausstellung diese Themen weiter bis hin zum heutigen Lithiumabbau ebendort.
MARKK-Direktorin Barbara Plankensteiner präsentierte ihr Haus als Beispiel für die Umgestaltung eines ehemaligen ‚Völkerkundemuseums‘. Sie beschrieb Interventionen in der Arbeit durch Kooperationen mit Kurator*innen, die als Forschungs-Fellows ans Museum kamen sowie mit zeitgenössischen Künstler*innen. Plankensteiner hob auch die Bedeutung von Ausstellungen zur Kolonialgeschichte für Kinder hervor.
Wollte man diese vielfältige Tagung zusammenfassen, so war gemeinsamer Tenor, dass es eines anderen Objektverständnisses bedarf: Objekte als Zeugen, Ahnen oder Vermittler von menschlichen Erfahrungen – je nach Perspektive - und Museen damit als Orte eines anderen, gemeinsamen Lernens verflochtener Geschichten.