Studium Individuale
cum tempore (c.t.): Das Dossier für Wissenschaft, Forschung und Lehre an der Leuphana
18.03.2024 Wir möchten uns an dieser Stelle etwas mehr Zeit nehmen, als das akademische Viertel lang ist. Mit unserer neuen Reihe „cum tempore (c.t.)“ blicken wir in das Archiv der Leuphana. Erfindungen, neue Erkenntnisse oder Projekte sind Ergebnisse langer, oft herausfordernder Prozesse. Mit unserem Dossier cum tempore (c.t.) setzen wir Forschungsberichte, Nachrichten, aber auch Porträts in größere Zusammenhänge: Wie profitieren etwa wirtschaftliche Akteur*innen im globalen Süden von den Forschungserfolgen des Instituts für Nachhaltige Chemie? Was kann Sustainable Finance and Accounting für eine stabile Wirtschaft tun? Was macht das originäre Studienmodell der Leuphana zu einem Erfolgskonzept? An dieser Stelle finden Sie in Zukunft ausführliche Darstellungen der Forschung, Lehre und des akademischen Lebens an der Leuphana Universität Lüneburg.
Dr. Steffi Hobuß ist seit 2023 Academic Director of Liberal Education und Wissenschaftliche Programmleitung Studium Individuale. Im Interview spricht sie die über Ideen, Herausforderungen und Chancen des Studienprogramms am Leuphana College.
- Frau Dr. Hobuß, beim Studium Individuale entwickeln Studierende ihr eigenes Studienprogramm, können also etwa Data Science mit Philosophie und Politikwissenschaft verbinden. Wie passt das Studium Individuale in unsichere Zeiten?
- Im Studium Individuale lernen die Studierenden, einen klaren Plan für ihr Studium zu entwickeln und werden von uns intensiv beraten durch Reflektionsübungen, Wochenend-Retreats und individuelle Gespräche. Dazu kommen unsere Kernmodule in jedem Semester. Die Studierenden bearbeiten im Laufe ihres Studiums eine gesellschaftlich relevante Frage, die sie beantworten möchten. Das ist gar nicht so einfach, denn Probleme sind ja nicht etwas, das einfach gegeben wäre, sie liegen nicht einfach in der Welt herum wie Steine. Wir bereiten unsere Studierenden darauf vor, Probleme erst einmal zu erkennen, sie zu fassen und dann an ihrer Lösung zu arbeiten. Entsprechend ihrer Ausgangsfrage wählen unsere Studierenden individuell ihre Vorlesungen und Seminare aus dem gesamten Angebot der Universität im Bachelor-Bereich. Data Science, Philosophie und Politikwissenschaft etwa können ethische, gesellschaftliche und technische Fragen verbinden und damit auf die zunehmenden Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz reagieren.
- Wie stehen Ihre Studierenden auf dem Arbeitsmarkt da?
- Gerade in unsicheren Zeiten fragen potentielle Arbeitgeber*innen nicht mehr schematisch nach Studienfächern, sondern nach tatsächlich erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen. In unsicheren Zeiten ist es gerade das, was hilft. Denn Berufsbilder verändern sich – niemand weiß genau, wie die Berufsfelder der Zukunft sein werden. Da sind besonders die Fähigkeiten zum Planen, Entscheiden und Reflektieren entscheidend. Den hohen fächerübergreifenden Anteil gibt es grundsätzlich im gesamten Leuphana Bachelor. Im Studium Individuale ist das noch verstärkt. Und: Wir möchten mit unserem Programm auch gerade Erst-Akademiker*innen ansprechen und zeigen, dass unsere Absolvent*innen sehr gute Berufschancen haben.
- Ihre Studierenden entwickeln für sich ein einzigartiges Studienprogramm. Werden sie damit nicht zu Einzelkämpfer*innen?
- Persönlichkeitsbildung ist bei uns nicht individualistisch gemeint. Wir wollen keine kämpferischen Individuen mit großen Egos erzeugen. Unsere Studierenden bewegen sich während ihres Studiums in Umgebungen, in denen nicht ihre Fachsprache gesprochen wird. Sie müssen also die anderen Studierenden fragen: Was meint ihr mit euren Begriffen? Umgekehrt müssen die anderen fragen: Warum hast du unseren Fachbereich gewählt? Mit welchem Thema beschäftigst du dich? Unsere Studierenden setzen sich immer wieder der Interaktion und dem Dialog aus. Die Grenzen der Disziplinen lösen sich auf. Die großen Probleme unserer Zeit können nur interdisziplinär gelöst werden. Wir unterstützen unsere Studierenden dabei, sich immer wieder in Situationen zu begeben, wo sie sich erklären und wo sie fragen müssen.
- Wie wichtig ist der Austausch?
- Ich komme aus der Sprachphilosophie und habe mich lange mit Theorien des Dialogs beschäftigt. Debattenkultur ist mir sehr wichtig. Ein gutes Miteinander beim Reden scheint zunächst trivial. Viele Menschen denken: Da müsse man einfach nur Regeln aufstellen. Aber das reicht nicht. Studierende fragen mich oft: Wie rede ich garantiert richtig, nicht rassistisch, nicht diskriminierend oder sonst abwertend?
- Wie rede ich denn garantiert richtig?
- Es gibt hier nie eine Garantie und keine garantiert sicheren Regeln, denn die Sprache ist etwas Lebendiges. Aber wir können uns aufeinander einlassen, wir können zuhören und wir können üben. Debattenkultur ist ein Prozess. Auch mir gehen manchmal Formulierungen daneben. Es ist ein Prozess, bei dem es darauf ankommt, dass sich alle einbringen.
- Wie können sich Absolvent*innen des Studium Individuale international behaupten?
- Was wir anbieten, gibt es an keiner anderen deutschen Universität. Das Studium Individuale ist viel internationaler als die traditionellen deutschen Programme. Oft erhalte ich im deutschen Bildungssystem ein Zertifikat mit meinen Fachkompetenzen. Aber bei den aktuellen Herausforderungen und gesellschaftlichen Verflechtungen braucht es mehr: Als Ingenieur*in muss ich nicht nur wissen, wie ich eine Brücke baue. Ich muss auch mit Bürgerinitiativen oder der Politik interagieren können.
National und international ist die Anschlussfähigkeit des Studium Individuale sehr hoch – gerade bei interdisziplinären Mastern. - Was meint Liberal Education?
- Wir erweitern mit diesem Begriff die Liberal Arts unter anderem um die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Das Studium individuale ist kein rein geisteswissenschaftliches Studium. Wir haben auch Betreuer*innen aus allen Fachdisziplinen.
Im Studium Individuale verbinden wir die Liberal Education mit dem kritischen Bildungsideal, also der Idee, nicht bloß zweckgerichtet zu studieren. Die kritischen Bildungsverständnisse sind von den Nazis systematisch aus Deutschland vertrieben worden und waren nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch international zu finden. Wir holen den kritischen Bildungsbegriff zurück nach Deutschland, wo er eigentlich herkam. Zweckrationalität hat eine gewisse Rolle, und sie hat uns Fortschritt gebracht. Aber Bildung allein schützt nicht vor Unmenschlichkeit: Die Nazi-Herrschaft war nicht irrational, sondern zweckrational. Menschen wurden fabrikmäßig ermordet, und die Massenmorde wurden von den Nazis wissenschaftlich gerechtfertigt. Damit so etwas nicht wieder passiert, braucht es nicht allein Bildung; Bildung allein reicht nicht, Bildung braucht auch eine Haltung. Das ist angesichts der heutigen Weltlage wieder hochaktuell und nötig. - Vielen Dank für das Gespräch!
Academic Director des Studium Individuale - Dr. Steffi Hobuß
Kontakt
Dr. Steffi Hobuß
Universitätsallee 1, C8.117
21335 Lüneburg
Fon +49.4131.677-2763
steffi.hobuss@leuphana.de