Verabschiedung: Prof. Dr. Gerd Michelsen

„Nachhaltigkeit ist normativ“

04.03.2024 Prof. Dr. Gerd Michelsen gilt als einer der Pioniere der deutschen Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaft. Während seiner Professur an der Leuphana baute er die Fakultät Nachhaltigkeit auf und brachte den UNESCO Chair nach Lüneburg.

Verabschiedung: Prof. Dr. Gerd Michelsen ©Leuphana/Marie Meyer
Verabschiedung: Prof. Dr. Gerd Michelsen ©Leuphana/Marie Meyer
Verabschiedung: Prof. Dr. Gerd Michelsen ©Leuphana/Marie Meyer

1973 hielt das Land Baden-Württemberg es für sinnvoll, in einem Ort namens Wyhl ein neues Atomkraftwerk zu bauen. 30 Kilometer südlich, in Freiburg, promovierte gerade Gerd Michelsen in Volkswirtschaftslehre und sah das anders. „Ich habe mich sofort in der Region engagiert. Ich hatte Kontakt auch zu den Anwälten, die die Bürgerinitiativen vertreten haben.“ Dabei fiel ihm auf, wie schwierig es war, wissenschaftlich qualifizierte Personen zu finden, die sich aus akademischer Perspektive  kritisch zur Atomenergie äußern konnten oder wollten. „Daher habe ich 1977 das Freiburger Ökoinstitut mitgegründet: ‚Institut für angewandte Ökologie‘. Das Ziel des Instituts war es, das Engagement der Bürger*innen mit wissenschaftlichen Argumenten fundiert zu stärken.“

Das Ökoinstitut leitete Michelsen bis Ende der siebziger Jahre und zog anschließend nach Hannover, wo er die Leitung der „Zentralen Einrichtung für wissenschaftliche Weiterbildung“ der dortigen Universität übernahm. „Wissenschaftliche Weiterbildung heißt, die Universität zu öffnen. 1980 ist mir bewusst geworden, dass -  will  man das, was in der Universität passiert, in die Gesellschaft  tragen, - man Menschen nicht unbedingt mit speziellen Themen aus der Biologie oder der Physik gewinnen kann. Vielmehr sollte man Problemstellungen aufgreifen, die einerseits gesellschaftliche Relevanz haben und andererseits aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven betrachtet und beleuchtet werden können.“
Heute ist es selbstverständlich, dass man sich wissenschaftlich weiterbildet, aber es ist Michelsens Verdienst, das schon weit vor anderen erkannt zu haben. In seiner Leitungsstelle unterstützte er die Weiterbildung und arbeitete mit einem großen Stamm an Dozent*innen aus der Universität zusammen, zu dem damals auch Hartwig Donner gehörte, der spätere Präsident der Universität Lüneburg. In seiner Rolle entwickelte Michelsen bereits Weiterbildungsangebote zu verschiedenen Umweltfragen der Zeit. 
 

Beginn der Umweltwissenschaften

Als Donner Präsident der Uni Lüneburg wurde, fragte er Michelsen um Rat bei der Entwicklung eines Weiterbildungsstudiums „Umweltökonomie und Umweltrecht“, das dann auch für einige Jahre an der Lüneburger Universität angeboten wurde. Michelsens Tatkraft und Energie hat offensichtlich einen positiven Eindruck hinterlassen, so dass ihm der damalige Dekan des Fachbereichs Kulturwissenschaften eine Vertretungsprofessur „Ökologie“ anbot, verbunden mit der Bitte, an der Entwicklung eines  neuen Fachbereichs „Umweltwissenschaften“ sowie eines interdisziplinären Diplomstudiengangs „Umweltwissenschaften“ mitzuwirken. Es folgten zahlreiche Projekte zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen an der Universität mit Förderungen, die unter anderem von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt bereitgestellt wurden. 1995 erhielt Michelsen dann einen Ruf an die Universität Lüneburg. Im Jahr 2004 wurde er zum Vizepräsidenten gewählt und bekam damit die Chance, den Fusionsprozess zwischen Universität und der örtlichen Fachhochschule insbesondere im Bereich Lehre und Studium mitzugestalten. Ein Jahr später wurde ihm schließlich der renommierte UNESCO Chair verliehen – seinerzeit der einzige für  „Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung“ weltweit.

Sein Einsatz für die Nachhaltigkeit trägt sichtlich Früchte, führt aber gerade zu Beginn der 2000er Jahre auch zu erheblichen Auseinandersetzungen. „Es war nicht nur Spaß zu der Zeit, ich wurde heftig angegriffen. Es hieß, ich würde die Universität ideologisieren. Sie sozusagen normativ in eine Richtung bewegen, die nichts mehr mit Wissenschaft zu tun hat. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bewusst eine Gruppe von Kolleg*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen zusammengebracht um zu zeigen: Wir wollen etwas in die Universität hineintragen. Wir wollen das mit Kolleg*innen verschiedener Disziplinen sowie mit Studierenden diskutieren, aber eben nicht auf der Ebene von ‚Sollte man das Licht ausschalten, wenn man einen Raum verlässt?‘, sondern viel weitergehender: Wie können wir auch Veränderungen in den Studienprogrammen bewirken?  Wie können wir die Universität lebensfreudiger machen – auch für Studierende? Aber auch: Wo können wir an der Universität Ressourcen sparen? Wir wollten Studierenden die Möglichkeit bieten, sich möglichst frühzeitig mit Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen auseinanderzusetzen. Lange Zeit waren Universitäten insgesamt, um es vorsichtig auszudrücken, sehr reserviert gegenüber diesen Herausforderungen, die uns bevorstanden und uns  immer noch bevorstehen.“
 

Ziel: Ein gutes Leben auf der Erde

Der Vorwurf, dass Nachhaltigkeit ideologisch sei, hält sich leider hartnäckig in Teilen der Gesellschaft und des öffentlichen Diskurses. Michelsen plädiert für einen umfassenderen Blick: „Nachhaltigkeit ist natürlich normativ, das ist doch völlig klar, sie beinhaltet das Ziel von einem guten Leben auf der Erde. Und sie beschreibt einen anderen Zustand, eine Veränderung, und damit einen Prozess, den wir als nachhaltige Entwicklung verstehen. Und die Frage, ob sich eine Universität mit  Nachhaltigkeit beschäftigen sollte, beinhaltet weitere  Anforderungen: wissenschaftsgeleitete Auseinandersetzungen mit gesellschaftlich relevanten Fragen zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft; wissenschaftliches Arbeiten im Sinne von Inter- und Transdisziplinarität, da gesellschaftlich relevante Fragen wie Klimawandel oder Mobilität nicht nur aus der Perspektive einer Disziplin bearbeitet werden können und selbstverständlich wissenschaftliche Solidität." 

In die Zukunft blickt Michelsen, der an der Leuphana unter anderem das Modul „Wissenschaft trägt Verantwortung“ konzipiert und eingeführt hat, vorsichtig optimistisch: „Ich würde nie davon reden, dass wir es ‚geschafft haben‘. Wir sind auf dem Weg und versuchen, Veränderungen in Gang zu setzen, Anregungen zu geben und  Dinge auch umzusetzen. Wenn ich mir den Hochschulbereich angucke, ist bereits vieles besser geworden. Das war in Lüneburg insbesondere nach dem Wechsel im Präsidium der Fall: Es wurde ein innovatives Studienprogramm aufgelegt, die Fakultäten erhielten einen neuen Zuschnitt und die Weiterbildung ein neues Gesicht. Auch wenn es am Anfang ziemliche Auseinandersetzungen gab, was häufig bei Veränderungen der Fall ist, hat Lüneburg eine klare Linie gezeigt. Aus dem Fachbereich ‚Umwelt und Technik' wurde nach der Fusion mit der ehemaligen Fachhochschule konsequent eine Fakultät Nachhaltigkeit. Das sind klare Botschaften und Lüneburg ist mit diesem Ansatz nicht schlecht gefahren.“

Wenn man einen Dynamo erfände, mit dem man Gerd Michelsens Tatkraft in Strom umwandeln könnte, wären schlagartig alle Energieprobleme gelöst. Auch im Ruhestand bleibt er aktiv: Nachdem er den UNESCO-Chair an seine Nachfolger übergab, verlagerte er seinen Tätigkeitsschwerpunkt nach Österreich, verfasst Gutachten und publiziert. „Die wissenschaftliche Schiene ist nach wie vor aktuell.“