„Sind alle Kinder nass?“ MWK-Forschungsprojekt: Integration durch Vertrauen

07.06.2022 Wenn Ihnen jemand in einer Sprache, die Sie kaum verstehen, sagt: „Hier gibt es so einen Ort, da können Sie Ihr Kind fünf Stunden am Tag abgeben, fünf Tage die Woche.“ – würden Sie es tun? Spontan fallen einem viele stichhaltige Gründe ein davon abzusehen. Doch unter welchen Umständen würde man das Angebot annehmen? Vielleicht wenn man bei der Einrichtung und den dortigen Menschen „ein gutes Gefühl“ hat – wenn man ihnen vertrauen kann, obwohl man nicht weiß, was einen erwartet.

Integration durch Vertrauen ©iStock/FatCamera
Die quantitativen Erhebungen zeigen, dass es einen sehr hohen Vertrauensvorschuss gegenüber der deutschen Gesellschaft und den Institutionen insgesamt, aber auch gegenüber der frühkindlichen Bildung gibt.

Das Projekt „Integration durch Vertrauen. Bedingungen des Vertrauensaufbaus geflüchteter Eltern mit 0 - 6-jährigen Kindern gegenüber frühpädagogischen Angeboten in Niedersachsen“ vollzog nach, wie geflüchtete Eltern gegenüber Kitas, Familienbildungsstätten und anderen frühpädagogischen Angeboten Vertrauen gewinnen. Das Projekt wurde mit knapp 800.000 Euro über dreieinhalb Jahre vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert und von Philipp Sandermann, Professor für Sozialpädagogik, Sybille Münch, seinerzeit Juniorprofessorin für Theory of Public Policy, Henrike Friedrichs-Liesenkötter, Juniorprofessorin für Bildungswissenschaften, und Onno Husen, PostDoc an der Professur Sandermann, im Verbund geleitet.

„Deutschland ist eine Fluchtmigrationsgesellschaft. In den letzten sieben Jahren sind 2,2 Millionen Menschen hierher geflüchtet“, erklärt Sandermann, „und ein Drittel aller Menschen, die einen Asylantrag stellen, sind sechs Jahre und jünger.“ Der Bereich „Kinder und Familien“ wurde allerdings bislang vergleichsweise wenig beforscht. Das Team aus den Projektleitungen und fünf Doktorand*innen verkleinerte nun diese Forschungslücke und wies mit erheblichem empirischem Aufwand nach, dass dem Vertrauen eine Schlüsselrolle beim Gelingen von Frühpädagogik zukommt. Die Wissenschaftler*innen gingen dabei multimethodisch vor: „Wir haben einen quantitativen Survey gemacht, bei dem wir niedersachsenweit repräsentativ geflüchtete Eltern erreicht haben. Parallel haben wir unterschiedlichste qualitative Methoden benutzt: Dokumenten- und Medienanalysen, teilnehmende Beobachtungen, Interviews mit geflüchteten Eltern, Ehrenamtlichen und Fachkräften“, sagt Sandermann. „Thematisch haben wir nochmal Schwerpunkte gesetzt“, ergänzt Münch, „nämlich ‚Welche Rolle spielen digitale Medien beim Vertrauensaufbau?‘, ‚Welche Rolle spielen Soziale Dienste und freiwilliges Engagement?‘ und ‚Welche Praktiken zwischen Fachkräften und Eltern lassen Vertrauen entstehen?‘“

Migration ist kein Ausnahmephänomen

Das Projekt zeigte – ein bisschen anders, als dies im Alltagsverständnis oft vermutet wird – dass sich Vertrauen interaktiv herstellen lässt, sehr situativ ist und kontextabhängig variiert. Es ist also keine Charaktereigenschaft, die Menschen in einem bestimmten Ausmaß besitzen oder eben nicht und die erfahrungsunabhängig stabil bleibt (wie etwa Extrovertiertheit oder Verantwortungsbewusstsein). Vertrauen ist etwas, das man aufbauen und festigen, aber auch gefährden und verlieren kann. Während der dreieinhalbjährigen Laufzeit des Projekts identifizierte das Verbundvorhaben eine ganze Reihe an „Stellschrauben“, die Vertrauen stärken können: Zum Beispiel, indem frühpädagogische Einrichtungen verlässliche, inklusive Strukturen schaffen, mehrsprachig kommunizieren und niedrigschwellige soziale Medien (z.B. Whatsapp) für Information und Austausch nutzen. Dabei stellt sich vor allem auch die Herausforderung, dass die Nachfrage nach Kinderbetreuung hoch ist und sich Anmeldeprozesse hürdenreich und komplex gestalten. Dass die bisherigen Strukturen so prekär sind, liegt indes daran, dass Entscheidungsträger*innen seit Jahren davon ausgehen, dass Migration in Deutschland ein Ausnahmephänomen ist – eines, das bald vorbei geht und somit weder mit finanziellen noch mit personellen oder gar baulichen Ressourcen ausgestattet werden muss.

Vermeidbare Ängste

„Das Tragischste an der Frage ist aber“, wirft Münch ein, „dass die quantitativen Erhebungen zeigen, dass es einen sehr hohen Vertrauensvorschuss gegenüber der deutschen Gesellschaft und den Institutionen insgesamt, aber eben auch gegenüber der frühkindlichen Bildung gibt und es dann häufig gar nicht so sehr darum geht, Vertrauen aufbauen zu müssen, sondern dieses Vertrauen auch zu halten.“ Auf einer Skala von 1 bis 10 werden die frühpädagogischen Angebote – über alle Nationalitätszugehörigkeiten hinweg – mit 8,5 bewertet. Eine Reihe an Exklusionsprozessen baut jedoch Vertrauen ab: So gibt es zum Beispiel Kindergärten, die mit Mehrsprachigkeit werben, während sich deren Mitarbeiter*innen schlichtweg weigern, mit geflüchteten Eltern auf Englisch zu sprechen. Und gelingende Kommunikation umfasst noch mehr: Münch und Sandermann plädieren dafür, dass vertrauensbildende Kommunikation sensibel ist für Routinen, die in Deutschland selbstverständlich sind, die aber im internationalen Vergleich einer Erklärung bedürfen. Das betrifft insbesondere das Bildungsverständnis in deutschen Kitas. „In einem Interview sagte eine Mutter etwas ganz Charakteristisches“, berichtet Sandermann, „verunsichert erzählte sie uns, dass sie ihr Kind aus der Kita abgeholt hat und es ganz verdreckt und vermatscht war. Die Erzieherin sagte ihr, dass heute ‚Wasser-Brunnen-Tag‘ war. Für deutsche Eltern bedarf das keiner weiteren Erklärung. Man bietet den Kindern an einem Projekttag einen Raum, um sich auszuprobieren und das Element ‚Wasser‘ kennenzulernen. Außerhalb Deutschlands ist das aber nicht überall selbstverständlich und bei den Eltern kommt schnell die Befürchtung auf: ‚Sind jetzt alle Kinder nass oder nur mein Kind, weil es etwas nicht richtig gemacht hat?‘ Diese Ängste sind mit mehr Aufklärung und Kommunikation zum großen Teil vermeidbar.“ Gleiches gilt für die Befürchtung, dass das eigene Kind in der Kita nicht genügend lerne – geflüchtete Eltern kennen aus einigen Herkunftsländern oftmals eine sehr viel verschultere Kinderbetreuung und haben entsprechend andere Erwartungen.

Ehrenamtliche kompensieren

Dass Geflüchteten die Teilhabe an frühpädagogischen Angeboten überhaupt in einem hohen Maße gelingt, liegt, wie Münch betont, an Ehrenamtlichen, die Zugänge zur deutschen Gesellschaft offen halten, gestalten und moderieren. Selbst Eltern, die bereits länger in Deutschland sind und schon gut Deutsch sprechen, sind aufgrund großer Hürden bei Behördengängen oder beim Ausfüllen unverständlicher bürokratischer Formulare noch lange auf Unterstützung Freiwilliger angewiesen. Dabei sind die Grenzen zwischen Ehrenamt und professioneller Tätigkeit oftmals fließend: Auch nach erfolgreicher Anmeldung sind es oft einzelne „Vertrauenspersonen“, die durch persönliches Engagement über die eigentliche Arbeitszeit hinaus vermitteln und damit grundsätzlich eher ausschließende Strukturen kompensieren. Zum Teil ist dieses Engagement sehr dauerhaft. „Das ist ein Ausdruck von Zwängen“, sagt Münch, „und funktioniert nur, weil alle deutlich mehr machen als sie eigentlich müssten.“

Der gründlichste Weg, das Vorschussvertrauen von Menschen zu verspielen, besteht darin, sie nicht teilhaben zu lassen. Sandermann argumentiert: „Man ruiniert Vertrauen damit, dass man Leute nicht mitmachen lässt, zum Beispiel indem man sagt, dass das Angetroffene nun mal das endgültige System ist und sich daran nichts ändern wird. Oder wenn man vermittelt, dass geflüchtete Eltern lernen und nachmachen sollen, aber ja nichts Eigenes einbringen dürfen. Eltern sagen dann, und das können wir auch empirisch zeigen, ‚ok, dann ist das offensichtlich keine Gesellschaft für mich‘. Dabei gibt es eigentlich eine hohe Grundbereitschaft, sich mit der deutschen Gesellschaft zu identifizieren, sie mitzugestalten und daran mitzuwirken. Der Wunsch nach Partizipation ist sehr hoch.“

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts fließen in ein „Train the trainer“-Programm ein. In Workshops mit Fort- und Weiterbildner*innen werden vertrauensbildende Maßnahmen geübt und in die vorhandenen frühpädagogischen Formate integriert. Für deren Verstetigung wurden Kooperationen mit zwei Fortbildungsträgern in Niedersachsen geschlossen.

Das Projekt-Team am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik: Marek Winkel, Sybille Münch, Vanessa Schwenker, Anna Siede, Philipp Sandermann, Hila Kakar, Onno Husen, Laura Wenzel, Henrike Friedrichs-Liesenkötter (v.l.n.r.)
Das Projekt-Team am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik. ©Philipp Sandermann
Gemeinsamer Abschlussworkshop des Projekts mit Praxispartner*innen, Interviewpartner*innen und Vertreter*innen aus Wissenschaft und Praxis sowie der Öffentlichkeit.
Abschlussworkshop des Projekts. ©Philipp Sandermann
Philipp Sandermann, Professor für Sozialpädagogik am IFSP.
Philipp Sandermann ©Philipp Sandermann