Diversity-Tag 2020: Digitalisierung versus Diversität?

26.05.2020 Die Leuphana schließt sich dem bundesweiten Diversity-Tag der Charta der Vielfalt an und fragt „Digitalisierung versus Diversität? - Chancen und Risiken einer digitalisierten Gesellschaft“: Prozesse der Digitalisierung bewegen sich häufig in einem Spannungsfeld von emanzipatorischem Potenzial, kommerziellen Interessen und diskriminierenden Praktiken. Die Corona-Pandemie hat den Digitalisierungsprozess massiv beschleunigt und damit auch dessen Chancen und Risiken. Die Kultursoziologin Dr. Lisa Gaupp beschäftigt sich in ihrem aktuellen Seminar mit diesem Konflikt.

Die Corona-Pandemie sorgt für einen Digitalisierungsschub. Vermeintlich ist das Internet ein Raum ohne Grenzen: Jede*r kann überall auf Informationen zugreifen. Risikogruppen nehmen gefahrlos teil. Vormals teure Konzerte bekannter Popstars sind für jeden kostenlos zu streamen. Lisa Gaupp setzt hinter diese Sätze Ausrufezeichen und Fragezeichen. Im Seminar „Diversität und Alterität“ beschäftigt sich die Verwaltungsprofessorin für Kultursoziologie unter anderem mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Diversität im Netz. Die Ergebnisse werden von Studierenden als Podcasts, Texte oder Videos kontinuierlich im Webspace „Dive into the Otherness“ veröffentlicht. Damit reagiert die Wissenschaftlerin auf die Kontaktbeschränkungen. „Im vergangenen Jahr haben wir am Diversity-Tag Aktionen im Zentralgebäude angeboten, in diesem Jahr sind wir komplett online“, sagt Lisa Gaupp. Am 30. Juni möchte sie in einer Abschlussveranstaltung zwei ihrer Seminare digital zusammenführen, damit die Studierenden ihre Ergebnisse teilen und diskutieren können.

Zwischenräume als Orte für mehr Diversität

„Es entstehen durch die Pandemie viele Zwischenräume, also Orte für mehr Diversität und Teilhabe, aber wir beobachten auch neue Ungleichheiten und Grenzen“, erklärt Lisa Gaupp. Allein die technischen Möglichkeiten seien nicht gerecht verteilt: Nicht überall sind leistungsfähige Computer vorhanden, an anderen Orten ist das Netz schlecht. Ein Wohnzimmer-Konzert bekannter Musiker*innen sei zwar gut für alle Menschen mit Vorerkrankungen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Live-Gig gehen könnten. „Aber Gehörlose, die in einer Konzerthalle Schwingungen der Musik wahrnehmen, werden dieses Erlebnis über einen Kopfhörer nicht haben.“ Lisa Gaupp beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Diversität und Alterität in Kulturorganisationen. Sie erforscht, welches Diversitätsverständnis Festivalorganisator*innen haben. Bei intersektionaler Diversität werden multiple soziale Zugehörigkeiten diskutiert, also etwa sexuelle Orientierung, Geschlecht oder Religion. Damit sollen gesellschaftliche Machtverhältnisse sichtbar gemacht werden. Die transkulturelle Diversität hingegen möchte keine Identitätsmarker setzen, sondern vielmehr versuchen, trennende Abgrenzungsmechanismen zu überwinden. „Jede der beiden Strömungen wird kritisch diskutiert“, erklärt Lisa Gaupp. Die Ziele beider Diversitätskonzepte sind aber häufig gleich: Jedem Menschen Zugang zu allen Ressourcen zu ermöglichen und eine größtmögliche Diversität an kulturellen Ausdrucksformen sichtbar zu machen. „Obwohl die etablierten Theater hohe Förderungen aus Steuergeldern bekommen, sind das Publikum und die programmierten Performances nicht so divers wie unsere Gesellschaft. Wo sind etwa prominent sichtbare Veranstaltungen, die künstlerische Praktiken zeigen, die nicht dem gängigen Kunstverständnis entsprechen und ein diverseres Publikum anziehen?“, fragt Lisa Gaupp.

Durch die Corona-Pandemie würden im Netz viele dieser Grenzen aufbrechen. Die „Fridays for Future“-Bewegung etwa demonstriert seit dem Beginn der Kontaktsperren fast weltweit im Netz. Zahlreiche virtuelle Solidaritätsinitiativen sind entstanden, vom gemeinsamen Singen auf Balkonen, über Nachbarschaftshilfen, um lokale Ladeninhaber*innen zu unterstützen bis hin zu unzähligen kostenfreien Kultur-, Coaching-, Bildungs- und Beratungsangeboten zur Ablenkung von oder zur Bewältigung der Krise. „Wir wissen heute noch nicht, wie erfolgreich und nachhaltig diese neuen Solidaritätsformen sein werden, um Ungleichheiten zu verringern, aber sie zeigen, welcher Pluralismus digital möglich ist.“

Das Piktogramm steht für Internationalität. ©Leuphana
Das Piktogramm steht für Internationalität.