Diversity Tag: Digitalisierung versus Diversität?

Chancen und Risiken einer digitalisierten Gesellschaft

Studierende werden beim Klavierspielen gefilmt ©Leuphana Universität/Jannis Muser
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Zum vierten Mal schließen wir uns dem von Charta der Viefalt initiierten, bundesweiten "Diversity Tag" am 26. Mai 2020 an und fragen an der Leuphana nach: "Digitalisierung versus Diversität? - Chancen und Risiken einer digitalisierten Gesellschaft". Prozesse der Digitalisierung bewegen sich häufig in einem Spannungsfeld von emanzipatorischem Potenzial, kommerziellen Interessen und diskriminierenden Praktiken. Digitalisierung kann Teilhabe ermöglichen, aber auch erschweren. Die digitale Sphäre als sozial hervorgebrachte spiegelt bestehende gesellschaftliche Verhältnisse wider - im Guten wie im Schlechten. Die Corona-Pandemie hat den Digitalisierungsprozess massiv beschleunigt und damit die Chancen und die Risiken, die damit einhergehen.

Programm

In diesem Jahr gibt es „Corona-bedingt“ drei digitale Angebote zum Diversity Tag, zu denen alle Interessierten herzlich eingeladen sind:

26.05.20: Startseitenspecial der Leuphana zum Diversity Tag

Zum vierten Mal steht auch die Leuphana-Startseite wieder im Zeichen des bundesweiten Diversity-Tages. Unter www.leuphana.de werden am 26. Mai drei unterschiedliche Perspektiven dem Verhältnis von Digitalisierung und Diversität nachgehen. Dabei stehen Forschungsergebnisse zum „Digitalisierungsbeteiligungsprozess“, digitalisierte Lehrformate die Diversitätsaspekte fokussieren sowie beispielhafte virtuelle Beratungsangebote wie das Portal zu sexualisierter Diskriminierung und Gewalt im Mittelpunkt der Beiträge. Die Gleichstellungsbeauftragte Kathrin van Riesen erläutert in einem Interview auf der Leuphana-Startseite die Hintergründe zur Entwicklung des Portals.

26.05.20-30.06.20: Ihre Ideen, Anmerkungen und Erfahrungen zum Thema sind gefragt!

Wenn Sie Ideen, Anmerkungen, Erfahrungen mit uns und anderen Menschen teilen wollen oder Fragen zum Thema "Digitalisierung versus Diversität? - Chancen und Risiken einer digitalisierten Gesellschaft" haben, können Sie diese ganz einfach und anonym in diesem "Online-Notizblock" (Etherpad genannt) hinterlegen. Die Beiträge der einzelnen Teilnehmer*innen werden durch unterschiedliche Farben markiert. Der Link zum Notizblock wird vier Wochen aktiv sein und danach gelöscht werden. Bitte veröffentlichen Sie keine sensiblen Daten auf dem Pad, da dieses von jeder Person aufgerufen werden kann. Diskriminierende Inhalte werden nicht geduldet.

30.06.20: VIRTUELL-INTERAKTIVES FORMAT VON 12:30 BIS 14:00 UHR UND EINE VIELFALT EINZIGARTIGER BLOG-BEITRÄGE

Erstmals wird es in diesem Jahr ein virtuell-interaktives Format zum Diversity Tag an der Leuphana geben. Aus dem Seminar „Diversität & Alterität“ von Dr.in Lisa Gaupp werden zum einen im Blog „dive into the otherness“ kreativ Ergebnisse präsentiert und zur Diskussion gestellt. Darüber hinaus werden sich Live-Beiträge mit Fragen von" Diversität und Kinderbüchern" auseinandersetzen. Eine Teilnahmemöglichkeit erfolgt nach Anmeldung unter: lucas.tiemon@stud.leuphana.de

Mögliche Perspektiven diversitätssensibler Digitalisierung

Wie verhalten sich Digitalisierung und Diversität zueinander? Inwiefern können in Digitalisierungsprozessen Diversitätsaspekte berücksichtigt werden? Welche Ausschluss- und Diskriminierungstendenzen lassen sich identifizieren? Und wie kann ihnen begegnet werden? Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen wird im Folgenden den Fragen nach möglichen Chancen und Risiken einer digitalisierten Gesellschaft in Bezug auf vier "Diversitätsperspektiven" nachgegangen.

Diversität und Technik

Digitale Technologien sind keineswegs so „neutral“ oder „objektiv“, wie sie erscheinen mögen. Das Anliegen der Diversität steht hierbei nicht nur in direktem Widerspruch zu dem Prinzip der „Homophilie“ (Tendenz aufgrund von Ähnlichkeiten in Kontakt zu treten), auf dem zahlreiche Algorithmen beruhen. Tatsächlich können digitale Technologien die Diskriminierung beispielsweise gegen in Armut lebende oder von Rassismus betroffenen Menschen und anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen verstärken.

Die Diskriminierung gesellschaftlich marginalisierter Gruppen durch datenbasierte Systeme ist bereits u. a. im Bereich Gesichtserkennung, des sogenannten „predictive policing“ (dt. vorausschauende Überwachung), in Bewerbungsverfahren für Jobs sowie in den Praktiken des „risk-based sentencing“ (dt. Risikobasierte Verurteilung) oder „predatory lending“ (dt. benachteiligende Kreditvergabe) nachgewiesen worden. Von dieser unmittelbaren Diskriminierung durch datenbasierte Systeme zu unterscheiden sind weiterhin datenbasierte Technologien, die nicht zwangsläufig an sich diskriminierend sind, aber doch fehlerhaft, unzuverlässig oder überdurchschnittlich häufig auf marginalisierte Gruppen angewendet werden, unterdarunter z. B. der Einsatz von Dialekterkennungssoftware in Asylverfahren oder Systeme zur Berechnung des Anspruchs auf Sozialleistungen.

Dass Algorithmen mit diskriminierenden Vorannahmen operieren, begründet sich nicht zuletzt darin, dass die Datenbasis, welche den Algorithmen zugrunde gelegt wird, sich als ebenso voreingenommen darstellen kann wie die Gesellschaft, der sie entspringen. Die Entwickler*innen dieser technologischen Werkzeuge beziehen vielfach systembedingte Diskriminierungsverhältnisse nicht ausreichend in ihre Berechnungen mit ein. Der Wissenschaftlerin Nelly Y. Pinkrah zufolge führt dies zu einer Art „programmierter Ungleichheit“: Die von Rassismus, Sexismus und Klassismus geprägten gesellschaftlichen Machtverhältnisse finden ihre Entsprechung in voreingenommener Technik, die Ausschlüsse hervorbringt und verstärkt. Dies geht vor allem auf Kosten jener Personen, die ohnehin überproportional gesellschaftlich benachteiligt sind: arme, kranke, migrantische und nicht-weiße Menschen. Hier geht es zum Artikel von Nelly Y. Pinkrah.

Auch reproduziert sich in weiten Teilen der digitalen Sphäre ein binäres, starres Verständnis von Geschlecht, in dem sich beispielsweise trans, inter und nicht-binäre Menschen kaum wiederfinden können. Eine weitere Kehrseite der Digitalisierung sind Datenmissbrauch und Plattformisierung; darüber hinaus nicht zuletzt auch die Beeinflussung und Manipulation demokratischer Willensbildungsprozesse auf den kommerziellen Plattformen „Sozialer Medien“, beispielsweise durch Falschinformationen und Hassrede. All diese Punkte können sich direkt oder indirekt benachteiligend auf gesellschaftliche Diversität und Chancengleichheit auswirken.

Diversität in der digitalisierten Lehre

Die aufgrund der Corona-Pandemie sehr kurzfristige Umstellung der kompletten Lehre an der Leuphana auf digitale Formate stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen und führt zur Frage, ob dabei auch Diversitätsaspekte ihre erforderliche Berücksichtigung finden. Lehre diversitätsorientiert und inklusiv zu gestalten, ist auch in der Präsenzlehre eine Herausforderung und verlangt sowohl von den Lehrenden als auch den Lernenden die Reflexion von Didaktik, Kommunikation, Inhalten und Verhaltensweisen.

Mit der Zielsetzung, diskriminierungsarm digitalisierte Lehre umzusetzen, ist es zum einen erforderlich, die Heterogenität der Gruppe zu kennen, um mögliche Unterschiede und besondere Bedarfe zu berücksichtigen. Zum anderen ist die Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen digitaler Lernformate wichtig, um eine Vorstellung davon zu haben, wer bzw. welche Gruppe, womit und wie erreichbar ist oder eben nicht. Dabei kann nicht vorausgesetzt werden, dass alle Studierenden über dieselbe "optimale" Grundausstattung verfügen. Die Digitalisierung bringt nicht nur Gewinner*innen, sondern auch Verlierer*innen hervor, die es gilt, nicht aus den Augen zu verlieren.

Darüber hinaus sollten Stereotype nicht reproduziert werden, sondern die digitalisierte Lernform und der Austausch zu einem Raum für Offenheit und Reflexion einladen, indem von Einzelnen empfundene Barrieren angesprochen und vermieden bzw. in einem gemeinsamen Lernprozess verändert und abgebaut werden können. Methoden- und Materialvielfalt werden als maßgebliche Voraussetzungen angesehen und digitale Medien und Technologien als wichtige Unterstützung bei der Realisierung binnendifferenzierender Lehr-­ und Lernformen erachtet. So können aktivierende Methoden Studierende in die Lage versetzen, ihre Lernwege und Lerntempi entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen selbst zu bestimmen, sodass sie fachliche und methodische Lücken eigenständig erkennen und schließen können.  

Ein Blick in das Vorlesungsverzeichnis an der Leuphana Universität zeigt, dass Fragen der Diversität auf der inhaltlichen Ebene in der aktuellen Lehre fächerübergreifend zu finden sind. Dr.in Lisa Gaupp zufolge zählen Diversität und Alterität und solche mit diesem Themenkomplex verbundenen Konzepte und Theorielinien wie Ungleichheit, Differenz, Hybridität, Transkulturalität oder Intersektionalität zu den Grundkonzepten kulturwissenschaftlicher Analysen. Sie erläutert ihren Forschungs- und Lehransatz im Rahmen eines Interviews, das anlässlich des bundesweiten Diversity-Tages am 26. Mai auf der Leuphana-Startseite veröffentlicht wird.

In einem ihrer laufenden Seminare zum Thema „Diversität und Alterität“ werden verschiedene Aspekte beleuchtet hinsichtlich der Frage, ob der gegenwärtige Digitalisierungsschub durch die Covid-19-Pandemie bestehende soziale Ungleichheiten verschärft und Diversität damit verringert und/oder neue hybride Zwischenräume und vielfältige Solidaritätspraktiken im digitalen Raum verstärkt in Erscheinung treten. Die Ergebnisse dieser studentischer Projektarbeiten werden zum 30. Juni 2020 auf https://diveintotheotherness.wordpress.com in verschiedenen online-Formaten veröffentlicht und im Rahmen einer Videokonferenz am 30. Juni 2020 diskutiert (siehe Programm).

Die folgende Übersicht stellt exemplarisch einige Veranstaltungen vor, die Fragen von Digitalisierung und Diversität miteinander verknüpfen und damit wichtige Impulse für die inhaltliche Diskussion setzen.

  • Datafied Humanity (Cheryce von Xylander)
  • Understanding Socio-Technical Transitions: Contemporary Perspectives on the Politics of the Internet and the Digital Economie (Thomas Gegenhuber)
  • Die Gesellschaft der Algorithmen. Eine Übung zur Soziologie der Algorithmen (Jan Tobias Fuhrmann)
  • COVID-19 and the Crisis: Tools for Critique (Götz Bachmann, Robert Rapoport)
  • Online Ethnography: Researching Popular Music in times of a Pandemic (Monika Schoop)

Das Centre for Digital Cultures CDC arbeitet bereits seit 10 Jahren an der kulturwissenschaftlichen Erforschung des digitalen Zeitalters und veranstaltet regelmäßig ein Austauschforum zu unterschiedlichen Aspekten der Digitalisierung. Passend zum Diversity Tag geht es am 25.05.20 um das Thema "Online, blended, massive open learning? Chancen, Grenzen und Barrieren durch digitale Lehr-Lern-Infrastrukturen".

Darüber hinaus bietet der Leuphana-Lehrservice Unterstützung in der Umsetzung einer Diversitätsorientierten Lehre mit digitalen Lernszenarien an, wie z. B. durch das Angebot zum diversitätsorientierten Lehren mit digitalen Lernszenarien.

Sozial-ökonomische Diversität

Die aktuell rasant voranschreitende Digitalisierung der Gesellschaft stellt uns alle vor große Herausforderungen, denn diese bringt sowohl strukturelle, organisatorische als auch kulturelle Veränderungen mit sich. Der Begriff der „Digital Divide“ (dt. Digitale Spaltung) beschreibt, dass sowohl der Zugang zu digitalen Technologien, als auch die Fähigkeiten, diese zu nutzen, ungleich verteilt und abhängig von sozialen und sozioökonomischen Faktoren sind. Ohne diese Zugänge und Fähigkeiten ist digitale Teilhabe nicht bzw. nur bedingt möglich.

Es ist nicht unerheblich, wer an der Entwicklung und Entstehung der Digitalisierung mitwirkt. Denn damit hängt auch die Frage nach Einflussnahme, Macht und ökonomischem Vorteilen – oder auch Nachteilen – zusammen. Die sozial-ökonomische Diversitätsperspektive lenkt den Blick im Rahmen des Digitalisierungsprozesses insbesondere auf marginalisierte Gruppen, um vorhandene Benachteiligungen überwinden und diskriminierende Strukturen abbauen zu können.

Auf einer Fachtagung zur Digitalisierung im Jahr 2019 forderte der "Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V." (DVBS): „Es muss möglich sein, dass in einer digitalen Arbeitswelt nicht Technik, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht.“  Dabei sei beispielsweise eine barrierefreie digitale Arbeitswelt technisch machbar, jedoch kein Selbstläufer. Der Beteiligung unterschiedlicher Gruppen an der Entwicklung des Digitalisierungsprozesses komme eine besondere Bedeutung zu.

Der Leuphana-Professor Thomas Gegenhuber ist als einer der Expert*innen in der Sachverständigenkommission für den 3. Bundesgleichstellungsbericht damit beauftragt, die Beteiligung unterschiedlicher Gruppen von Frauen in der digitalen Wirtschaft zu untersuchen. In einem Startseiten-Interview für den Diversity Tag am 26. Mai erläutert er die aktuellen Erkenntnisse.

Diversität und digitale Teilhabe

Insbesondere Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen können bei der Nutzung digitaler Angebote auf große Hürden stoßen, darunter beispielsweise fehlende Untertitel oder Alternativtexte, nicht lesbare PDFs, unstrukturierte Webseiten, komplexe Sprache oder hohe Informationsdichte. Digitalisierung kann neben den Herausforderungen aber auch Chancen bieten, wenn z. B. die Angebote und die Zugänge zielgruppengerecht, inklusiv und niedrigschwellig gestaltet werden.

So erlauben beispielsweise Livestreams auch von zuhause an Veranstaltungen teilzunehmen oder digitale Hilfsmittel wie ein Screenreader Zugang zu Informationen. Menschen, die aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung oder zeitlichen Verpflichtungen nicht reisen können, haben durch digitale Formate die Möglichkeit, als Referierende oder Teilnehmende teilzuhaben. Digitale Angebote können helfen, sich mit anderen Menschen zu vernetzen, miteinander zu lernen und zu kooperieren. Gerade digitale Plattformen bieten eine Chance, sich schnell und ohne großen Aufwand zu informieren, erste Fragen zu klären und bei Bedarf das passende Angebot für sich zu finden, beispielsweise zum Thema "Studieren mit gesundheitlicher Beeinträchtigung" oder "sexuelle Belästigung". Informations- und Austauschplattformen, die zeit- und ortsunabhängig zu erreichen sind, können Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und mit Familien- oder Pflegeaufgaben Vorteile bieten, können aber auch überfordern.

Damit aktuell und zukünftig digitale Teilhabe möglich ist, braucht es ein Bewusstsein für diese vielfältigen Zugänge und Hürden und die Ausbildung von entsprechenden Kompetenzen.

Hinweise und Handreichungen

Die hier angeführten Handreichungen und Websites bieten eine Auswahl an Informationen und Hinweise, wie generell und in der gegenwärtigen Ausnahmesituation gute Lehr- und Lernbedingungen für alle gewährleistet werden können.

Bundesweiter Diversity Tag

  • Auch der bundesweite 8. deutsche Diversity Tag am 26. Mai 20 ist von Covid-19 geprägt. Die initiierende Charta der Vielfalt hat alle Mitglieder aufgerufen, digital und virtuell Flagge für Vielfalt zu zeigen und sich zu beteiligen, um auch unter diesen besonderen Umständen Zusammenhalt und Engagement in Bezug auf Diversity sichtbar zu machen. Hier geht es zur Aktions-Landkarte aller Diversity Tag-Veranstaltungen.
     
  • Seit der Unterzeichnung der Charta der Vielfalt im Jahr 2014, setzt sich die Leuphana für strukturelle Teilhabe und Zugänge unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Nationalität, Religion oder Weltanschauung, Behinderung und chronischer Erkrankung, Alter, sexueller Orientierung, sozialer Herkunft oder dem Aufenthaltsstatus ein. Diskriminierendes Verhalten wird an der Leuphana nicht geduldet. Mit der Entwicklung des eigenen Kodex “Diversität als Chance” verdeutlicht die Leuphana seit 2016 ihr Engagement für Antidiskriminierung, Inklusion, Wertschätzung, Selbstreflektion und Vielfalt.

Kontakt

Valentina Seidel
Referentin für Diversität, Gleichstellungsbüro
valentina.seidel@leuphana.de

Karin Fischer
Koordinatorin des Netzwerkes Geschlechter- und Diversitätsforschung
gud@leuphana.de