„Die interdisziplinäre Forschung an der Leuphana ist eine große Bereicherung für mich“
Miriam Gutekunst forscht als Gastwissenschaftlerin an der Leuphana
Zu welchen Konflikten kommt es in der postmigrantischen Gesellschaft im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt? Mit dieser Frage befasst sich Dr. Miriam Gutekunst während ihres Aufenthaltes an der Leuphana. Im Gastwissenschaftsprogramm zu intersektionaler Geschlechterforschung tauscht sie sich mit den Kolleg*innen am Institut für Soziologie und Kulturorganisation (ISKO) inhaltlich und hinsichtlich der Forschungsmethode aus.
Schon das Äußere der beiden verspricht Harmonie: Ohne es zu verabreden, haben sich Dr. Miriam Gutekunst und Prof. Dr. Serhat Karakayali zum Gespräch farblich ähnlich gekleidet. Hose und Oberteil leuchten jeweils umgekehrt in Blau und Weinrot. Die optische Ausgewogenheit spiegelt sich wider im Umgang der beiden mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit: Beide widmen sich der Migrationsforschung, haben über ihre unterschiedlichen Fächer aber einen eigenen Zugang, durch den sie sich ergänzen und ihre Sichtweisen erweitern. Sie ist Kulturanthropologin, er ist Soziologe. Der Professor für Migration and Mobility Studies arbeitet am ISKO.
Als Symbol für ihre Arbeit hält Miriam Gutekunst etwas in der Hand, das manche Menschen problemlos nutzen können – andere aber nicht: Ihren Reisepass verbindet die Wissenschaftlerin mit den Orten, an denen sie bislang geforscht hat, wie beispielsweise Marokko. Gleichzeitig sieht sie in dem kleinen Heft ein Symbol für das, was sie „Mobilitätshierarchie“ nennt. „Die globale Ungleichheit im Zugang zu Mobilitätsrechten hat mich in meiner Forschung immer wieder beschäftigt“, sagt Gutekunst und sie ergänzt: „Als Kulturanthropologin interessiert mich vor allem, wie auch Migrations- und Grenzpolitiken im Alltag, in Institutionen und in Behörden ausgehandelt werden, wie sie umgesetzt werden.“
Das war die Ausgangsfrage ihres letzten Forschungsprojekts, in dem sie die konflikthafte Umsetzung von EU-Migrationspolitiken am Beispiel des ‚Familiennachzugs‘ untersuchte. Aktuell interessiert sie sich dafür, wie jene migrationspolitischen Kategorisierungen und Hierarchisierungen von Menschen nach dem Ankommen in der postmigrantischen Gesellschaft fortwirken – zum Beispiel hinsichtlich Staatsbürgerschaft, Geschlecht, Sexualität und Religion. Zu dieser Frage arbeitet sie auch in Lüneburg. „Und da interessiert mich vor allem der gesellschaftliche Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt in der postmigrantischen Gesellschaft“, ergänzt Gutekunst: „Ich blicke dahin, weil wir besonders in den vergangenen Jahren die Tendenz erleben, dass das Thema geschlechtsspezifische Gewalt vor allem dann im öffentlichen Diskurs thematisiert wird, wenn die Täter als Migranten gesehen werden.“ Das führe dazu, dass geschlechtsspezifische Gewalt eher als ein Problem von Migration betrachtet wird und weniger als eines der gesamten Gesellschaft.
„Mit meiner Forschung möchte ich nicht nur Strategien herausfinden, die der beschriebenen Instrumentalisierung entgegenwirken, sondern die auch dabei helfen mit den entstehenden Dilemmata in der Praxis umzugehen, beispielsweise bei feministischen Organisationen“, erläutert Miriam Gutekunst ihre Motivation zu diesem Themenfeld zu forschen.
Ihren Forschungsfragen nähert sie sich mithilfe der Ethnografie. Das ist eine Forschungsmethode, mit der das Denken und Handeln von Menschen in einem jeweiligen Kontext beobachtet und beschrieben wird. Auf diese Weise soll ein tieferes Verständnis für Alltagsstrukturen und -praktiken aus der Perspektive verschiedener Akteur*innen entwickelt werden und damit auch für gesellschaftliche Verhältnisse und Dynamiken. Während die klassische Ethnologie mithilfe der Ethnografie (Altgriechisch für Völkerbeschreibung) vor allem außereuropäische Gesellschaften erforschte, macht die Europäische Ethnologie – aus der Gutekunst kommt – traditionell die eigene Gesellschaft zum Forschungsgegenstand.
©Katja Stafenk
Auch wegen dieses besonderen Zugangs zu Forschungsfragen sei Miriam Gutekunst in dem umfangreichen Auswahlprozess für das Gastwissenschaftsprogramm gewählt worden, sagt Serhat Karakayali. „Mit Miriam haben wir jemanden mit viel Expertise für ethnografische Feldforschung, für die Schwierigkeiten, mit denen man in der Forschungspraxis im Feld konfrontiert werden kann“, erläutert der Professor für Migration und Mobility Studies am Institut für Soziologie und Kulturorganisation (ISKO) der Leuphana. Für die Kolleg*innen am ISKO sei diese Expertise besonders spannend, da Gutekunst mithilfe ihrer Forschung reflektiert, wie Wissen entsteht und aus welcher Sichtweise es wiederum betrachtet wird: „Es geht uns Forschenden ja auch darum, wie die Produktion wissenschaftlichen Wissens mit den jeweiligen Kategorisierungen und Begriffen wiederum beiträgt zum Forschungsfeld – das zugleich hochaufgeladen und politisch ist“, erläutert Karakayali. Auch auf diese Weise zeigt sich, dass das, was als „individuelle Geschichte“ erscheint, oft tief in globale Machtstrukturen eingebettet ist.
An die Leuphana eingeladen wurde Miriam Gutekunst von Prof. Dr. Stefan Scheel. Den Professor für Politische Soziologie am ISKO kennt sie seit einigen Jahren. „Wir haben bereits gemeinsam publiziert, weil wir in Konsulaten und Botschaften in Drittstaaten dazu geforscht haben, wie verschiedene Visaverfahren in die Praxis umgesetzt werden. Und jetzt ist es sehr schön, dass wir uns hier wieder begegnen und austauschen können“, sagt Gutekunst. Aktuell arbeitet sie als Post-Doktorandin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor forschte sie in Göttingen, Leipzig und Innsbruck. Bei einem Gastaufenthalt in Oxford hat sie 2016 Serhat Karakayali kennengelernt. Eine Bekanntschaft von Forschenden, die durch das Gastwissenschaftsprogramm nun vertieft und ausgeweitet wird: Die beiden planen weitere Projekte und Veröffentlichungen.
Eingebunden ist sie am ISKO nicht nur durch eigene Lehre, sondern auch durch den engen Austausch mit anderen Wissenschaftler*innen. Zu ihnen gehört Dr. Julia Böcker, mit der Miriam Gutekunst am 11. September 2025 einen Workshop zum Thema „Wo stehen wir? Feministisch forschen in autoritären Zeiten“ veranstaltet. Als besonders wertvoll betrachtet sie die interdisziplinäre Arbeit an der Leuphana: „Ich könnte mir vorstellen, dass im Anschluss an die Gastprofessur hier noch mehr entsteht.“ Serhat Karakayali ergänzt: „An der Leuphana gibt es keine Professur zum Thema Geschlechterforschung. Nicht erst durch die Zusammenarbeit mit Miriam zeigt sich, dass wir hier so eine Professur brauchen.“



