Trauer um Professor Jamme

04.05.2021 Lüneburg. Mit großer Bestürzung wurde an der Leuphana Universität Lüneburg die Nachricht aufgenommen, dass Christoph Jamme, Professor für Philosophie an der Fakultät Kulturwissenschaften, am 2. Mai 2021 völlig überraschend verstorben ist. Die Leuphana verliert mit Christoph Jamme ein wertgeschätztes Mitglied, eine wichtige Stimme in akademischen und intellektuellen Debatten und einen Wegbereiter der Universitätsentwicklung, um die er sich in den letzten bald 25 Jahren seines Wirkens an Universität Lüneburg und Leuphana in vielfältiger Weise verdient gemacht hat.

Christoph Jamme wurde nach einem Studium der Germanistik, Philosophie sowie der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft mit der Arbeit „Ein ungelehrtes Buch". Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800 im Jahr 1981 an der Ruhr-Universität Bochum promoviert. Nach Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Hegel-Archiv sowie als Fellow am Netherlands Institute for Advanced Study (NIAS) in Amsterdam wurde er in Bochum mit seinem später bei Suhrkamp in zwei Auflagen erschienenen Buch „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart habilitiert, ein Standardwerk der Mythosforschung. In den Jahren 1994 bis 1997 war Christoph Jamme als Professor für Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Deutschen Idealismus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig, bevor er im Jahr 1997 dem Ruf auf die Professur für Philosophie am damaligen Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg in Nachfolge von Hermann Schweppenhäuser folgte.

Christoph Jammes reichhaltiges Œuvre besticht durch die profunde Anknüpfung an die historischen Traditionen der Philosophie, deren fortgesetzte Relevanz für zeitgenössische Debatten er immer wieder anschaulich sichtbar zu machen verstand. Er zählte zweifelsohne zu den profiliertesten deutschen Forschern im Bereich der philosophischen Mythos-Theorie, ein früh ausgebildeter Schwerpunkt seiner Arbeiten, bei dem die mit den Nachwirkungen der Aufklärung zusammenhängende Frage im Vordergrund stand, was in westlichen Gesellschaften an die Stelle ehemals mythischer Bindungskräfte getreten ist und was deren Kohäsion unter Bedingungen der Moderne ausmacht.

Gleichfalls internationale Resonanz erlangten seine Forschungen zum deutschen Idealismus, dessen Bedeutung weit über die Grenzen der Philosophie hinaus er sich in gewichtigen Einzelstudien wie in einführenden Arbeiten widmete (u.a. „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart; Einführung in die Philosophie des Mythos: Neuzeit und Gegenwart; als Hg., gem. mit S. Matuschek Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie, als Hg. gem. mit F. Völkel Hölderlin und der deutsche Idealismus, 4 Bde.; als Hg. gem. mit A. Lemke „Es bleibet aber eine Spur – Doch eines Wortes: zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins; als Hg. gem. mit Y. Kubo Logik und Realität: wie systematisch ist Hegels System?; als Hg. gem. mit S. Matuschek Handbuch der Mythologie, 2014). Im Jahr 2013 legte Prof. Jamme in Fortführung dieser Forschungsaktivitäten die Monographie „Mythos als Aufklärung. Dichten und Denken um 1800“ im Wilhelm Fink-Verlag vor, die relevante Arbeiten zu diesen Themengebieten noch einmal gebündelt und um neue Beiträge ergänzt verfügbar machte.

Als Mitherausgeber des Bandes zu „Aesthetics and Literature“ wirkte Professor Jamme zudem an der großen vierbändige Bestandsaufnahme The Impact of Idealism. The Legacy of Post-Kantian German Thought mit, die von Nicholas Boyle und Liz Disley als General Editors 2013 bei Cambridge University Press publiziert wurde. Mit dem 2021 erschienenen, gemeinsam mit Kathrin Busch herausgegebenen umfänglichen Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und dem langjährigen Direktor des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum Otto Pöggeler verbanden sich für Christoph Jamme die Fortsetzung einer langjährigen Beschäftigung mit Heidegger wie eine Rückkehr an die Anfänge seines eigenen wissenschaftlichen Wirkens am Hegel-Archiv.

Durch seine profunde Vertrautheit mit philosophischen Traditionszusammenhängen – er publizierte und lehrte u.a. zu Platon, Hegel, Nietzsche, Husserl, Heidegger, Gadamer und Blumenberg - , wie auch mit herausragenden Repräsentanten philosophisch relevanter deutscher Literatur – u.a. Lessing, Hölderlin, Rilke, Celan –, aber nicht zuletzt auch durch seine Aufgeschlossenheit und fortgesetzte intellektuelle Neugierde gegenüber zeitgenössischer Theorie bis in eine Disziplin wie die Ethnologie hinein (u.a. Claude Levi-Strauss, Michel Leiris) wurde Christoph Jamme bald nach seiner Berufung zu einem der prägenden Wissenschaftler und gewichtigen Fürsprecher der noch jungen Lüneburger Kulturwissenschaften, die er auch nach außen in Publikationen vertrat (Kulturwissenschaften: Konzepte, Theorien, Autoren, Hg. Iris Därmann und Christoph Jamme, Paderborn: Fink 2007).

Für die Kulturwissenschaften übernahm Jamme  zwischen 2001 und 2005 auch als Dekan des Fachbereichs Kulturwissenschaften Verantwortung, nachdem er im Jahre 2000 maßgeblich am institutionellen Zusammenschluss von Philosophie und Kultursoziologie in Gestalt des Instituts für Kulturtheorie beteiligt war, aus dem das disziplinübergreifende kulturwissenschaftliche Vertiefungsfach Kulturtheorie und Kulturanalyse erwuchs. Er hat die Fakultät Kulturwissenschaften und die Professorinnen und Professoren der Universität mehrfach im Senat der Leuphana vertreten. Seinen zahlreichen Doktorand*innen und Habilitand*innen bot er Orientierung und war ihnen ein anspruchsvoller wie fördernder Gesprächspartner. Auch war er Mitantragsteller des unter Koordination von Beate Söntgen erfolgreich eingeworbenen DFG-Graduiertenkollegs „Kulturen der Kritik“.

Der hohe Anspruch an wissenschaftliche Qualität, durch den Jammes Wirken gekennzeichnet war, und der sich an die eigenen Werke ebenso richtete wie an die der Fachkolleg*innen, stand für ihn ausdrücklich in keinem Widerspruch zu seinem vielfältigen Engagement für die Rezeption philosophischer Argumente und Traditionszusammenhänge in der Lehre wie für ihrer Popularisierung in öffentlichen Debatten – sei es in seinen vielen gemeinsamen Seminaren mit Richard David Precht, seinen Aktivitäten als Mitverantwortlichem der Utopie-Konferenz der Leuphana, als Vortragender in der Reihe „10 Minuten Philosophie“ sowie als Moderator und Diskutant von zahlreichen öffentlichen Gesprächsformaten. In diesem Kontext ist nicht zuletzt auch sein Engagement für die Etablierung und Ausgestaltung des Leuphana Studienmodells zu sehen, an dem er als langjähriger Verantwortlicher für das Verstehens-Modul des Leuphana Semesters wichtigen Anteil hatte.

Mit Christoph Jamme verliert die Universität ein hoch angesehenes Mitglied und einen geschätzten Kollegen, dem die Institution und viele ihrer Mitglieder zu großem Dank verpflichtet sind. Die Leuphana wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Unser Mitgefühl als universitäre Gemeinschaft gilt seiner Familie, seinen Angehörigen und Freunden.