Kulturen der Kritik

Im Mittelpunkt des Forschungsschwerpunktes »Kulturen der Kritik« stehen genealogische Perspektiven auf die disruptiven Problemlagen und Konfliktlinien der Gegenwart: von technologischer Transformation und Plattformkapitalismus, Migration und Kolonialität/Dekolonialität über Gender und Rassismus bis hin zu Klimawandel und der anthropozänen Kondition.

Forschungsprogrammatik

Ausgangspunkt des Forschungsschwerpunktes ist die Diagnose, dass die Grundfragen zeitgenössischer Gesellschaften sich an einem Gesamtgefüge aus sozio-kulturellen, politischen, ökonomischen, ökologischen und technisch-medialen Konstellationen ausrichten, die in ihrer Verschränktheit nur kulturwissenschaftlich zu perspektivieren und nur interdisziplinär zu bearbeiten sind. In Lüneburg bedeutet dies die Verbindung von sozial- und geisteswissenschaftlichen Perspektiven, in denen Cultural Studies, Philosophie, Wissensgeschichte, Kulturorganisation, Migrationsforschung und Soziologie ebenso eine wichtige Rolle spielen wie bildende Künste, Literatur, mediale Praktiken und Formen des sozialen und politischen Handelns. Einbezogen sind dabei auch die Theoretisierung einer kritisch-diagnostischen Arbeit, die Herausarbeitung unterschiedlicher Verständnisse von Kritik und kritischer Praktiken, ihre Geschichte sowie die Reflexion und Neu- resp. Umformulierungen des Kritikbegriffs selbst.

Der Forschungsschwerpunkt unternimmt damit eine produktive Revision der Voraussetzungen, Funktionen und Geltungsansprüche von Kritik, und zwar mit dem Ziel, den Stellenwert von Kritik in der modernen und der gegenwärtigen Kultur neu zu bestimmen. Dies geschieht programmatisch im DFG-Graduiertenkolleg »Kulturen der Kritik«, dessen Forschungsagenda einen spezifischen Zugriff auf die Kritikproblematik entwi-ckelt – ein Zugriff, der auch weitere Forschungsanstrengungen in diesem Schwerpunkt inspiriert. Den Aus-gangspunkt bildet die Analyse kritischer Praktiken – ihrer Formen, Medien und Effekte. Denn was Kritik jeweils ausgemacht hat und ausmacht, was sie sein kann und sein will, erschließt sich einer verallgemeinernden systematischen und theoretischen Reflexion nur unzureichend. Kritik ist nur als eine immer schon kulturell situierte, durch Formen und Medien der Darstellung determinierte Praxis zu verstehen, die gleichwohl umfassende Geltung und Verbindlichkeit beansprucht, um wirksam sein zu können. Zum einen sind durch neue Technologien und Distributionswege eine Fülle von unerwarteten, Einspruch erhebenden Praktiken entstanden, deren Kritikförmigkeit jeweils zu klären ist. Zum anderen haben postkoloniale, dekoloniale und transkulturelle Perspektiven grundlegende, in der Aufklärung wurzelnde Annahmen über Kritik in Frage gestellt. Bleibt dabei zwar ein Kritikverständnis als transformatorische, emanzipatorische und intervenieren-de Praxis weitgehend bestehen, werfen diese neuen Phänomene verstärkt Fragen nach Geltungsansprüchen, der Situiertheit von Kritik und dem jeweiligen Subjekt der Kritik auf.

Auf dieser programmatischen Grundlage intendiert der Forschungsschwerpunkt, den Zusammenhang von Kritik und Kultur in der Geschichte der Moderne bis zur Gegenwart neu zu erfassen und ein aktualisiertes, kulturwissenschaftlich fundiertes Kritikverständnis zu entwickeln. Kritik kommt dabei insgesamt als historisch-hermeneutische Aufgabe neuen Zuschnitts in den Blick. War in der ersten kulturwissenschaftlichen Gründerzeit Anfang des 20. Jahrhunderts davon die Rede, dass an die Stelle der Kritik der Vernunft die Kritik der Kultur getreten sei und zwar als transzendentale Bestimmung der »verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt« (Cassirer), so hat sich die kritische Aufgabe der Kulturwissenschaften Anfang des 21. Jahrhunderts – nicht zuletzt durch den Schockzustand, in dem wir uns durch die disruptiven Positivitäten befinden und der uns neu zu denken zwingt – aus der Perspektive des Forschungsschwerpunktes grundlegend in Richtung einer positiven Kritik und einer anderen Form der hermeneia verschoben: Kritik erscheint in neuem Licht, als sorgende-sorgsame Problematisierung der herrschenden Zustände, die gesellschaftliche Potentialitäten eröffnet und das Mögliche pluralisiert, dabei den von einem beschränkt Möglichen verdeckten Sinn des Unmöglichen reklamiert.

Der Forschungsschwerpunkt »Kulturen der Kritik« der Lüneburger Kulturwissenschaften kann in diesem Sinne als Modell und als Experimentierfeld betrachtet werden, auf dem die Frage der Kritik – im Sinne kritischer Studien – weiterentwickelt wird und zwar in Richtung der Freilegung von bislang verstellten gesellschaftlichen Potentialitäten und der Beförderung eines vielfältig Möglichen. Dieser Zugriff könnte auch ein Schlüsselmoment für eine weitreichende Reaktualisierung von Kulturwissenschaften darstellen, die unter anthropozänen Bedingungen auch dringlich erscheint.

Beteiligte Professuren

  • Prof. Dr. Armin Beverungen
  • Prof. Dr. Timon Beyes
  • Prof. Dr. Erich Hörl
  • Prof. Dr. Serhat Karakayali
  • Prof. Dr. Sven Kramer
  • Prof. Dr. Andrea Kretschmann
  • Prof. Dr. Susanne Leeb
  • Prof. Dr. Roberto Nigro
  • Prof. Dr. Lynn Rother
  • Prof. Dr. Beate Söntgen
  • Prof. Dr. Christina Wessely

Drittmittelprojekte seit 2018

Künstlerische Lebenspraxis als Intervention, Prof. Dr. Beate Söntgen, Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, seit 2022, Förderung durch die DFG im Rahmen des SFB „Intervenierende Künste“

DFG-Graduiertenkolleg Kulturen der Kritik: Formen, Medien, Effekte, Prof. Dr. Beate Söntgen, Prof. Dr. Erich Hörl, seit 2016, Förderung durch die DFG

Modern Migrants: Paintings from Europe in US Museum Collections, Prof. Dr. Lynn Rother, Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, seit 2019, Förderung durch die VolkswagenStiftung im Rahmen einer Lichtenberg-Professur

Jameson 2.0 – Cognitive mapping in der zeitgenössischen Kunst, Prof. Dr. Susanne Leeb,Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, seit 2020, Förderung durch die DFG

Die Ausstellung Les Immatériaux: Interdisziplinarität, Epistemologie, kuratorische Subjekte, PD Dr. Andreas Broeckmann, Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, seit 2021, Förderung durch die DFG

Zukunftsdiskurse – Öffentlichkeit zwischen Fakt und Fiktion. Wissensproduktion in Wissenschaft, Literatur, Medien, Kunst, Prof. Dr. Sven Kramer,  Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen, 2021-2022, Förderung durch das MWK

Elemente einer kritischen Theorie medialer Teilhabe, Prof. Dr. Erich Hörl, Prof. Dr. Roberto Nigro, Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien, Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft 2018-2021, Förderung durch die DFG

Complexity or control? Paradigms for sustainable development, Prof. Dr. Erich Hörl et al., Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien, 2015-2020, Förderung durch das Land Niedersachsen

PriMus – Promovieren im Museum, Prof. Dr. Beate Söntgen, Prof. Dr. Susanne Leeb, Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, 2017-2019, Förderung durch das BMBF

Urzeit und Umwelt. Inszenierungen des Prähistorischen in der Moderne, Prof. Dr. Christina Wessely, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen, 2017-2019, Förderung durch die DFG