Wie gelingt die Energiewende?

Zwischen Klimakrise und Gasnotstand – Wie kann Deutschland die sozialen Herausforderungen der Energiewende meistern?

02.09.2022 Der Jurist Prof. Dr. Thomas Schomerus lehrt in Lüneburg seit 1996 Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Energie- und Umweltrecht. Seit 2021 ist er Mitglied des Aarhus Convention Compliance Committee der Vereinten Nationen in Genf. Zuvor war er Richter am Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg und dort u.a. am ersten Urteil zum Standortauswahlgesetz für Endlager beteiligt. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit sind ihm stets auch Praxisprojekte wichtig. Nachhaltigkeit voranzubringen, ist ihm auch ein ganz persönliches Anliegen.

Thomas Schomerus ©Leuphana
Thomas Schomerus
Herr Schomerus, Sie widmen das zehnte Leuphana Energieforum am 6. September den sozialen Herausforderungen in der beschleunigten Energiewende. Warum?
Schon vor der Gas- und mittlerweile auch der Stromkrise wurde an der Universität gefragt: Wie können wir die Energiewende gerecht gestalten? Die Suche nach Antworten ist jetzt dringender denn je. Das Energieforum will eine regionale Plattform für die Diskussion dieser aktuellen Thematik bieten und den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft anregen. Mitveranstalter ist die Klimaschutz- und Energieagentur Niedersachsen. Wir wollen mit unserem Programm ein großes Publikum erreichen und laden alle Interessierten zur Mitwirkung ein.
Das Klimaschutzgesetz zielt auf die Treibhausgasneutralität Deutschlands bis 2045 ab. Dafür muss die Bundesrepublik fast vollständig mit erneuerbaren Energien versorgt sein. Wie kann das gelingen?
Drei bekannte Strategien für Nachhaltigkeit müssen dafür angewendet werden: Vorrangig ist die Senkung des Energieverbrauchs. Das kann dadurch gelingen, dass wir Energie besser, also effizienter nutzen. Wir sollten außerdem dahin kommen, grundsätzlich weniger Energie zu verbrauchen, indem wir uns auf ein wirklich notwendiges Maß beschränken, Stichwort Suffizienz. Und drittens müssen wir den Aspekt der Konsistenz beachten, das heißt stärker auf andere Energieformen zu setzen und den Umbau von fossilen zu erneuerbaren Energien voranzutreiben.
Wie kann Deutschland aus den fossilen Energien aussteigen?
Die größten Hürden gibt es in den Bereichen Wärme und Verkehr. Alle Verbrenner einfach durch Elektroautos zu ersetzen, wird nicht die Lösung sein. Wir brauchen vielmehr einen grundlegenden Systemwechsel, der weniger auf Individual- und mehr auf öffentlichen Verkehr, Fahrräder, Sharing-Modelle etc. setzt.
In Deutschland entfällt mehr als die Hälfte des Energieverbrauchs auf das Wärmen und Kühlen von Anlagen und Häusern. Fast 85 % der dafür aufgewendeten Energie stammen aus fossilen Quellen. Hier muss künftig viel stärker erneuerbare Energie genutzt werden. Zusätzlich müssen alle Gebäude viel besser isoliert sein. Zusätzlich sollte überschüssige Wärme, die im Sommer entsteht, zum Beispiel im Untergrund für den Winter gespeichert werden. Dazu haben wir an der Leuphana bereits geforscht. Hier braucht es aber mehr Unterstützung durch die Politik.
Die Gesellschaft der Zukunft wird strombasiert sein. Der Stromverbrauch wird bis 2030 von jetzt jährlich rund 560 auf bis zu 750 Terawatt-Stunden steigen und soll nicht wie heute zu etwa 40%, sondern zu 80 % aus erneuerbaren Energien stammen. Bedenkt man den gleichzeitigen Ausstieg Deutschlands aus der Atom- und der Kohlekraft wird deutlich, dass wir dafür auch künftig Energie werden importieren müssen.
Das sind große Herausforderungen. Wir sind bereits auf Importe angewiesen, zumindest bisher auf Gas aus Russland.
Stimmt, dass man sich in die Abhängigkeit von russischer Energie begeben hat, war ein großer Fehler der Politik. Das Projekt Nordstream 2 ist bereits vor seinem Beginn vielfach kritisiert worden. Wir müssen heute davon ausgehen, dass wir wegen unserer Unterstützung für die von russischen Truppen angegriffene Ukraine bald gar kein Gas mehr aus Russland bekommen werden. Das führt zu einer neuen Dynamik in der Energiewende, die wir schon längst gebraucht hätten.
In der aktuellen Situation kommt es aber auch zu Zielkonflikten mit dem Klimaschutz: Wegen des Gasnotstandes sollen nun Braunkohlekraftwerke weiter betrieben werden, die schmutzigste Art der Energieerzeugung.
Auch die Bemühungen von Mitgliedern der Bundesregierung, mit Kanada, Qatar, Schweden und Norwegen zusätzliche Energielieferungen zu verabreden, können nur für eine Übergangszeit helfen. Eine wirkliche Lösung des Problems gibt es nur mit einem Ausstieg aus den fossilen Energien.
In der Gaskrise werden auch Rufe nach Kernenergie laut. Kann der Atomausstieg so einfach annulliert werden?
Prinzipiell: ja. Der Gesetzgeber hat den Ausstieg 2000 beschlossen und 2011 beschleunigt. So kann er auch sagen: Wir steigen wieder ein. Aber ich sehe rechtliche Schwierigkeiten. Der Fahrplan sieht vor, dass bis Ende des Jahres die letzten drei Kraftwerke abgeschaltet werden. Darauf sind die Betreiber seit über 10 Jahren eingestellt – und nicht unbedingt zu einem Kurswechsel bereit. Das ginge nur im Konsens, denn eine Verpflichtung würde ihre Rechte beschneiden und eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht riskieren. Und es darf keinesfalls Sicherheitsmängel geben. Die Kraftwerke wurden nicht so instandgehalten, dass sie noch über längere Zeit einsatzfähig wären. Das zu erreichen, würde erhebliche Investitionen erfordern.
Die Beschäftigung mit der Atomkraft begleitet mich seit fast 50 Jahren. Für mich steht fest: Auf Dauer sollten wir keine Atomkraft nutzen, auch wegen des weiterhin ungelösten Endlagerproblems.
Fridays for Future fordert hierzulande eine Energiewende bereits bis 2035. Wie wäre das machbar?
Über den Einsatz neuer Solaranlagen könnte man hier relativ schnell vorankommen. Aktuell ist es aber so, dass wir zu wenige Fachkräfte haben, um diesen Ausbau zu realisieren. Man sollte sich in diesem Zusammenhang vielleicht auch einmal Gedanken darum machen, wie man mehr junge Menschen dazu bekommt, in Handwerksberufe einzusteigen, die wir dringend für die Erreichung von Nachhaltigkeitszielen brauchen
Das Bundekabinett entwickelt derzeit neue Gesetzespakete zum Ausbau von Windkraft. Was können wir davon erwarten?
Auf diesem Gebiet ließe sich vom Gesetzgeber einiges machen. Wir müssen zum Beispiel die Planungs- und Genehmigungsverfahren von Windparks beschleunigen. Derzeit braucht eine Anlage von der Idee bis zum Betrieb bis zu acht Jahre. Würden wir heute mit der Planung beginnen, könnte eine neue Anlage also erst 2030 in Betrieb gehen.
Der Ausbau der Windkraft stößt allerdings auch an räumliche Grenzen, denn Deutschland ist ein dicht besiedeltes Land. Wir brauchen aber mehr Flächen für Wind- und Solarparks. Deshalb werden Kompromisse erforderlich sein – teilweise auch auf Kosten des Natur- und Artenschutzes.
Eine erfolgreiche Energiewende braucht nicht nur gute Gesetze, sondern auch die Akzeptanz aus der Bevölkerung. Welche Rolle kann Bürgerenergie spielen? 
Das Thema finanzielle Bürgerbeteiligung an erneuerbaren Energien bearbeiten wir an der Universität sehr intensiv, denn ohne Akzeptanz vor Ort lassen sich Projekte nicht realisieren. Ergebnisse unseres aktuellen Forschungsprojekts Benefits werden wir auf dem Energieforum zur Diskussion stellen.
Klar ist: Die lokale Bevölkerung will nicht nur transparent informiert sein, sondern auch monetär profitieren. Die Windräder in der Nachbarschaft können sehr störend sein, blinken ständig und beeinträchtigen die Aussicht. Wir haben festgestellts, dass sich die Haltung der Betroffenen ändert, wenn sie persönlich von den Anlagen finanziell profitieren können. Für mich sind Bürgerenergie-Genossenschaften ein Zukunftsmodell.  
Herr Schomerus, wie funktioniert Klimarecht?
Das Recht ist ein Mehrebenensystem: International schweben das Pariser Klimaabkommen und die 1,5° bzw. 2°-Grenze über allem. Die Europäische Union richtet sich danach und macht verbindliche Vorgaben, zum Beispiel im Rahmen des Green New Deals, welche die Mitgliedstaaten wie Deutschland umsetzen müssen. Die Bundesregierung schlägt in der Regel die Gesetze vor, die dann Bundesrat und -tag beschließen. Die Maßnahmen stehen erstmal nur auf dem Papier, sie müssen auch in Bund, Ländern und Gemeinden umgesetzt werden. Am Ende müssen aber Private investieren. Klimaschutz, zum Beispiel dank der Energiewende, schafft jedoch große Chancen – solange er gerecht gelingt.