Dem Wind eine Chance geben

29.06.2023 Die aktuellen Ausbauziele der Windräder sind bis 2030 nicht zu schaffen. Die Produktions- und Lieferketten bergen Probleme. Die Leuphana Ingenieurwissenschaften sehen in "kreislauffähigen Lieferketten" die Lösung.

Schmidt ©Leuphana/Anastasia Adasheva
Windräder ©Katharina Kubisch
Kramer ©Leuphana/Anastasia Adasheva

Die nüchternen Zahlen machen die Bedeutung klar. Heute drehen sich in Deutschland gut 33.000 Windräder. Das Ausbauziel 2030 zielt auf mehr als die doppelte Leistung ab. Mindestens 50.000 Rotoren sollten es schon sein und für einen klimaneutral erzeugenten Strom sorgen. Aber selbst das wird schwierig. Dahinter stehen große Herausforderungen, aber auch erhebliche Chancen. Eine zentrale Problematik besteht in der termingerechten Produktion und Lieferung der benötigten Windkraftanlagen. Die Forschenden an der Fakultät Management und Technologie der Leuphana Universität Lüneburg arbeiten an Lösungen, um die Lieferketten zu optimieren. „Die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Regierung und Industrie zur Identifikation von Engpässen und Entwicklung von innovativen Lösungen ist entscheidend, um das Potenzial Deutschlands als Windenergievorreiter auszuschöpfen und den Übergang zu nachhaltiger Energie umzusetzen“, erklärt Professor Matthias Schmidt, Institut für Produktionstechnik und -systeme (IPTS).

Kathrin Kramer ergänzt diese Position: „Windenergie ist neben Photovoltaik bereits heute die kostengünstigste, sicherste und emissionsärmste Energieerzeugungsform. Entscheidend wird das Tempo zur Skalierung in den nächsten Jahren sein – hierzu sollten wir die Fakten der Stoffströme anschauen.“ Sie ist Promotionsstudentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gruppe Produktionsmanagement am IPTS. Ein Blick in eine Kreislaufwirtschaft für die Zukunft der Industrie ist ihrer Meinung nach von entscheidender Bedeutung. Zusammen mit Matthias Schmidt forscht Kathrin Kramer an der Entwicklung von kreislauffähigen Lieferketten zur Erhöhung der Nachhaltigkeit und Resilienz der Windindustrie.

 

Die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Regierung und Industrie zur Identifikation von Engpässen und Entwicklung von innovativen Lösungen ist entscheidend, um das Potenzial Deutschlands als Windenergievorreiter auszuschöpfen und den Übergang zu nachhaltiger Energie umzusetzen

Matthias Schmidt

„Die ambitionierten Ausbauziele bedeuten eine dringend notwendige Skalierung der Lieferketten“, führt Kramer weiter aus: „Aktuell bestehen jedoch teils erhebliche Abhängigkeiten von einzelnen Ländern für Rohstoffe wie zum Beispiel seltene Erden. Zudem ergibt sich aus der global zu erreichenden ökologischen Transformation die Herausforderung, die zunehmenden Material-, Personal- und Produktions- und Logistikbedarfe gut zu organisieren.“ Dabei sei es entscheidend, neue System-Konzepte wie das einer Kreislaufwirtschaft umzusetzen.


INTERVIEW 

Inwiefern kann eine Kreislaufwirtschaft zu einer nachhaltigeren und resilienteren Windindustrie beitragen?
Kathrin Kramer: Das Konzept einer Kreislaufwirtschaft sieht vor, nur wenige Materialien einzusetzen und diese so lange wie möglich auf einem sehr hohen Wert zu halten. Zur Umsetzung wird häufig von sogenannten R-Prinzipien gesprochen: REDUCE (Verringerung), REUSE (Wiederverwendung), RECYCLE und RECOVER (Wiederverwertung). Der größte Anteil an Emissionen entlang des Lebenszyklus einer Windenergieanlage liegt in der Materialextraktion und -verarbeitung. Durch Verringerung, Verlangsamung und Rückführung der Materialien lassen sich die Emissionen demnach reduzieren. Zudem kann die Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft neue Beschaffungskanäle zum Beispiel gebrauchter Komponenten oder recycelter Materialien erschließen und somit die Resilienz der Lieferketten erhöhen.

Warum ist die Windindustrie heute noch nicht als Kreislaufwirtschaft aufgebaut?
Kathrin Kramer: Die Hindernisse zeigen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Beispielweise führt die stetige Lancierung neuer Turbinentypen zu einer erschwerten Hebung von Skaleneffekten und Umsetzung von Erfahrungswissen (Lessons Learned) entlang der Lieferketten. Das führt zu einem zu geringen Marktvolumen zur Umsetzung von differenzierteren Kreislaufwirtschaftsstrategien am Ende des ersten Lebenszyklus wie der Wiederaufbereitung von Komponenten. Ansonsten könnte beispielsweise der Anteil an wiederaufbereiteten Komponenten im Ersatzteilmanagement erhöht werden.

Gibt es weitere Hemmnisse?
Kathrin Kramer: Ferner fehlt es aktuell noch an Standards, Knowhow und Daten über den Produktlebenszyklus zum umfassenden Aufbau von Reverse Supply Chains und Wiederaufbereitungs- sowie Recyclingkapazitäten. Aber auch die Entwicklung von neuen Materialien, Turbinendesigns und Produktionsprozessen unter Berücksichtigung von Designkriterien der Kreislaufwirtschaft für zukünftig zu installierende Turbinen ist entscheidend. Beispielsweise wird an der Recyclingfähigkeit von Verbundmaterialien in Rotorblättern geforscht. Die Windindustrie ist dabei nicht die einzige Industrie, die noch an Lösungen zur Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft arbeitet. Laut dem Circular Gap Report 2023 sind lediglich 7, 2 Prozent unserer globalen Wirtschaft zurzeit zirkulär. Die Windindustrie ist aber als Kernlösungsanbieter zur Dekarbonisierung der Wirtschaft in einer hervorragenden Position, als Vorreiter voranzuschreiten.

Was leistet die Forschung Ihrer Gruppe beispielhaft, um eine Kreislaufwirtschaft zu erreichen?
Kathrin Kramer: Zunächst schauen wir uns die Windenergie-Lieferketten im Hinblick auf das Erreichen der Ausbauziele in Deutschland an und betrachten, was erforderlich ist, um die Lieferketten unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten kreislauffähig zu machen. Hierzu gilt es, ein Systemverständnis aufzubauen, das heißt, Transparenz über die Ressourcenflüsse und eventuell auftretende Zielkonflikte zu schaffen sowie die Machbarkeit der unterschiedlichen Kreislaufwirtschaftsstrategien zu verstehen. Beispielsweise untersuchen wir das Potenzial von einer Zweitnutzung von Turbinen und Kernkomponenten. Wir entwickeln Ansätze zur Planung und Steuerung von Produktions- und Logistikprozessen, die eine Kreislaufwirtschaft ermöglichen. Natürlich ist es dabei entscheidend, eine europäische beziehungsweise globale Perspektive einzunehmen. Dies erzielen wir, indem wir beispielsweise mit dem Department of Wind and Energy Systems der Technical University of Denmark (DTU Wind) im Austausch stehen, an welchem ich gerade meine Forschungsarbeiten weiter vorantreibe.

Blickwechsel: Wie integrieren Sie das Daten-Management in die Forschung? Welchen Beitrag leistet eine datengestützte logistische Planung und Steuerung?
Kathrin Kramer: Für zu entwickelnde Ansätze und Algorithmen zur Planung und Steuerung der kreislauffähigen Lieferketten sind aktuelle Daten und die effiziente Verarbeitung dieser Daten enorm wichtig. Beispielsweise sind Daten über Standorte, Nutzungsdauern sowie Bestände in Lagerstufen in Abgleich mit realistischen Ausbauzielen zu bringen, um zukünftig erforderliche Kapazitäten teils hochspezialisierter Ressourcen (etwa zur Durchführung von Offshore-Installationstätigkeiten) bereitzustellen und gut auszulasten. Es bedarf Daten auf verschiedenen Ebenen, zum einen über die Turbine, die jeweiligen Komponenten, aber auch über die Materialzusammensetzung und zwar über den gesamten Lebenszyklus des Windrades hinweg.

Eine letzte Frage zur künftigen Forschungsstrategie an Sie, Herr Prof. Schmidt: Was erwarten Sie, wird für die industrielle Praxis verändert sein, wenn die Neugestaltung von Geschäftsmodellen, Lieferketten, Organisationen, Produkte und Prozesse abgeschlossen sein wird? Wie sieht dann die industrielle grüne Praxis aus?
Matthias Schmidt: Den Staus „Abgeschlossen“ gibt es in unserer Welt nicht. Wir erwarten eher einen stetigen Anpassungsprozess auf immer neue Herausforderungen und Chancen. Aber einen Ausblick können wir geben: Die industrielle Praxis wird auf Symbiosen zwischen heute noch isoliert laufender Industrien fußen. Der Erwerb einer Leistung statt der Herstellung eines Produktes ist das künftige Ziel. Lieferketten sind agil und kennen dann nicht mehr nur die eine Materialflussrichtung. Demnach wird das Verhältnis von Stakeholdern unterschiedlichster Lieferketten von einer zunehmenden Kooperation geprägt sein.

 

Krmaer & Schmidt ©Leuphana
Prof. Dr.-Ing. Matthias Schmidt und Kathrin Kramer (M.SC.)

Kontakt

Kathrin Kramer und Professor Dr.-Ing. Matthias Schmidt
Fakultät Management und Technologie
Professur für Produktionsmanagement
Institut für Produktionstechnik und –systeme (IPTS)
Leuphana Universität Lüneburg
Universitätsallee 1
21335 Lüneburg


Mail:

kathrin.kramer@leuphana.de
matthias.schmidt@leuphana.de