Das Startup-Interview – Trend 2023

Interview mit Reinhard Schulte und Maximilian Wagenknecht

Im Gespräch mit der Fakultät Management und Technologie der Leuphana Universität Lüneburg ordnen die beiden Wissenschaftler, Professor Dr. Reinhard Schulte und Doktorand Maximilian Wagenknecht, den aktuellen Trend ein. Sie erklären die dazu passende Lehre und Forschung an der Universität und beleuchten das Kooperationsnetz.

Reinhard Schulte, was ist aller Voraussicht nach im Jahr 2023 beim Thema Existenzgründungen zu erwarten?

Die Welt ist nicht mehr die gleiche. Was man heute in nahezu jedem gesellschaftlich relevanten Bereich feststellen muss, das gilt auch für die Wissenschaft. Und das gilt sicher auch für die Forschung zu Unternehmensgründungen.

Ein schon vor der Pandemie überaus robuster Arbeitsmarkt hat weniger Menschen als zuvor veranlasst, den Schritt in die Selbstständigkeit zu unternehmen. Der Qualität der Gründungsvorhaben hat das aber sogar gutgetan. Gleichzeitig hat die Pandemie deutliche Spuren in der Forschung hinterlassen: Weil sich der Kontext verändert hat, sehen wir viele neue Themen in der Gründungsforschung, die es so bisher nicht gab. Zum Beispiel betrifft das die mit globalen Krisen verbundenen Umwälzungen, die auch zu Chancen und Risiken für neue Geschäftsmodelle führen; hierunter fallen die Allokation von Impfstoffen oder Ansätze zur Substitution von Störungen in Lieferketten. Darüber hinaus sehen wir jetzt natürlich mehr Vorher-Nachher-Studien, etwa bezogen auf Gründungsaktivität sowie die Durchhaltefähigkeit und das Überleben junger Unternehmen.

Insgesamt spielt das Thema Risiko eine größere Rolle, speziell mit Blick auf umwälzende Umfeld- oder Kontextänderungen. Das ist auch ein großes Thema für Investor*innen. Risikomanagement dürfte künftig auch die Gründungsforschung stärker bestimmen. Da fügt sich unsere eigene Forschung gut ein. Wir arbeiten daran, Theorien und Konzepte des Risikomanagements auf den Spezialfall von Startups anzupassen.

Maximilian Wagenknecht, was erfahren Sie auf Kongressen und Gründungsveranstaltungen von der neuen Gründerinnen- und Gründergeneration in Sachen Krisen- und Risikomanagement von Startups?

Die beiden Begriffe Krisen und Risiken begleiten uns gerade seit 2020 bedingt durch die Corona-Pandemie im Alltag aber auch in der Wissenschaft stetig. So war das Leitthema der G-Forum Konferenz 2022 in Dresden „Wandel im Entrepreneurship – Chancen und Risiken / Strukturen und Strategien“. Das G-Forum ist eine in Deutschland stattfindende Konferenz über Entrepreneurship, Innovation und Mittelstandsforschung. Hier war für mich deutlich zu spüren, dass das Thema Risikomanagement und die Frage, wie die Forschung Startups bei dem Umgang mit Risikomanagement unterstützen kann, sehr aktuell ist…

Risikomanagement geht weit über den Anwendungsbereich von Finanzunternehmen hinaus. Die Größe der Unternehmen verändert zwar die Ausgestaltung der Risikomanagementstrukturen, macht es aber nicht weniger wichtig für kleine Unternehmen oder Gründungen.

Maximilan Wagnenknecht

…und wo steht die Forschung dazu?

Die Potentiale eines effektiven Risikomanagements für Startups sind erst wenig erforscht. Viele verbinden ein Risikomanagement eher mit großen Unternehmen wie Banken, Versicherungen oder Fondsgesellschaften. Risikomanagement geht aber weit über den Anwendungsbereich von Finanzunternehmen hinaus. Die Größe der Unternehmen verändert zwar die Ausgestaltung der Risikomanagementstrukturen, macht es aber nicht weniger wichtig für kleine Unternehmen oder Gründungen.

Deutlich geworden ist mir dies bei einem Workshop an der Universität Bremen, wo ich direkt mit Gründer*innen über dieses Thema diskutieren konnte. Keiner der Anwesenden nutzte Grundlagen des Risikomanagement für die Steuerung der eigenen Unternehmensentwicklung. Begründet wurde dies damit, dass Gründerinnen und Gründer eher chancenbasiert denken sollten und dass das Risikomanagement sich nicht einfach in ein kleines Unternehmen implementieren lasse.

Und stimmt das?

Dem zweiten Punk stimme ich weitgehend zu. Das bedeutet aber nicht, dass ein Risikomanagement nicht benötigt wird. Das bedeutet vielmehr, dass die klassischen, auf Effizienzsteigerung und Prozessoptimierung ausgerichteten Planungen etablierter Unternehmen und das darauf aufbauende und danach ausgestalte Risikomanagement für Startups mit ihren anderen Bedürfnissen eher ungeeignet sind. Es lässt sich also nicht so einfach auf Startups übertragen.

Was wird dann benötigt?

Startups brauchen ein auf ihre Bedürfnisse angepasstes, mit ihren jeweiligen Entwicklungsstufen wachsendes Risikomanagement. Das gilt insbesondere in Zeit von Unsicherheiten und höheren Investorenanforderungen. Das muss ein Risiko- und Chancenmanagement sein, welches sich auf die kundenzentrierte Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung von Startups und deren wachsenden Marktanforderungen konzentriert. Und hier zeigt sich, dass das geforderte Chancenmanagement auch zeitgleich immer ein Risikomanagement beinhalten muss.

Reinhard Schulte, hat sich der Aufbau und die Geschäftsfeldentwicklung in Startups professionalisiert? Oder verleitete das üppig verfügbare Geld in den zurückliegenden Jahren zu vorschnellen Gründungen mit unausgereiften Business-Modellen?

Die Zeiten des schnellen und leichten Geldes sind ja schon eine Weile vorbei, eine neue Investmentblase sehe ich im Bereich von Startups derzeit aber nicht. Gleichwohl hat schon die Zinssituation, die wir noch Ende 2021 hatten, natürlich dafür gesorgt, dass anlagebereites Kapital reichlich zur Verfügung stand. Trotz stark veränderter Zinskulisse ist das heute noch immer so. Ungare Konzepte schaffen es aber in der Regel nicht bis zur Finanzierung, wenn man die berühmten drei F’s (FFF: family, friends, fools) als Finanzierungskanal mal ausklammert. Meines Erachtens haben wir alle aus der Vergangenheit gelernt. Vorneweg sicherlich Angels und VCs, aber da nehme ich auch Forschung und Lehre nicht aus. Manche Universitäten im In- und Ausland arbeiten darum noch heute mit den Cases aus der Zeit früherer großer Umwälzungen – wie Dotcomblase oder Finanzkrise –, denn man kann viel daraus lernen…

…können Sie ein Beispiel nennen, an dem sich das zeigt?

Wir hatten vor nicht allzu langer Zeit sogar einen solchen Fall in meinem Seminar zur Gründungsberatung. Dort trainiere ich Studierende für Beratungsaufgaben, indem ich ihnen zunächst die Grundlagen der Beratung junger Unternehmen vermittle und sie dann mit einem realen Beratungsauftrag konfrontiere. Da gab es aus dem handwerklichen regionalen Umfeld einen Gründer mit einem fantastischen Produkt, das industriell skalierbar gewesen wäre. Er hatte in Jahren der akribischen Produktentwicklung aber kein gleichermaßen überzeugendes Business Model dafür gebaut – genaugenommen gar keins. So hatte er sich bei allen denkbaren Investor*innen eine Abfuhr geholt.

Noch eine Ergänzung: Ein sehr starker Arbeitsmarkt – wie er sich aktuell in Deutschland und auch im Startup-Musterland USA zeigt – nimmt vielfach den Druck, eine Selbstständigkeit oder Unternehmensgründung zu wagen. Wer dies dennoch macht, hat gute Gründe. Merkt man eine Veränderung bei der Qualität der Startups, die sich nun doch auf das Business-Parkett wagen?

Ganz richtig. Wir beobachten eine durchaus gesunde gründerseitige Selbstselektion, bevor Gründungsideen dann wirklich auf die Startrampe gestellt werden, und damit verbunden auch einen starken Rückgang von Notgründungen. Hinzu kommt aber auch: Gründende bereiten sich heute ein ganzes Stück weit besser vor, finden bessere Informations- und Beratungsangebote und es gibt eine erheblich bessere Transparenz diesbezüglich. Die Gründungsinfrastruktur hat eine neue Qualität erreicht. Das gilt übrigens innerhalb und außerhalb der akademischen Welt gleichermaßen. Ich kann den Studierenden heute Werkzeuge und Informationen anbieten, die es früher einfach noch nicht gab.

Maximilian Wagenknecht, Sie standen schon einmal selbst kurz vor einer Startup-Gründung. Dann hat Sie die Forschung darüber fasziniert und der Weg führte in die Universität. Was vermissen Sie – was haben Sie gewonnen?

Ja, direkt nach meinem Masterabschluss stand ich vor der Entscheidung, wie es für mich weitergehen soll. Und diese Entscheidung habe ich mir nicht leicht gemacht. Denn bereits im Studium habe ich mit Kommilitonen eine Gründungsidee entwickelt, die mich persönlich begeistert hat. Gerade der Kern der Idee, älteren Menschen den Alltag zu erleichtern, hat mich damals sehr motiviert. Es ist immer schwierig, an einem solchen Punkt die für sich richtige Entscheidung zu treffen. Am Ende habe ich mich dafür entschieden, dass ich noch mehr über das Thema Gründungsmanagement aus einer konzeptionellen Ebene erfahren möchte. Das wäre vielleicht auch bei einer eigenen Gründung möglich gewesen, aber mir war damals schon klar, dass die Universität und Forschung mir einen noch breiteren Einblick ermöglicht. Und damit sollte ich, wie sich später rausgestellt hat, absolut richtig liegen.

Als ich an der Universität angefangen habe, musste ich mich erstmals daran gewöhnen allein auf der anderen Seite des Seminarraums zu stehen und als Lehrender zu den Studierenden zu sprechen, Forschungsaufgaben und auch übergeordnete Aufgaben, wie etwa Kommissionsarbeiten, zu übernehmen. Das sind alles wertvolle Erfahrungen. Es ist schon etwas Besonderes, so schnell die Möglichkeit zu bekommen, sein Wissen mit Studierende zu teilen und zu diskutieren. Das motiviert mich enorm.

Reinhard Schulte, nun ein politischer Blickwechsel: die Bundesregierung reformiert das Einwanderungsrecht. Es ist bekannt, dass der Anteil der Selbstständigen in anderen Ländern viel größer ist als hierzulande. Bringt die Zuwanderung neuen Schwung?

Zunächst eine Klarstellung: Allein die Selbstständigenquote ist kein Glücksbringer. Wer Selbstständigenquote und Wohlstand im internationalen Vergleich betrachtet, wird das sofort erkennen. Ganz aktuell sehen wir auch, wie robust die Wirtschaft trotz verhaltener Gründungsneigung ist. Die Koinzidenz von starkem Arbeitsmarkt und zurückhaltender Gründungsaktivität ist ja gegeben.

Aber Sie sprechen damit natürlich zurecht auch den momentan immer weiter anwachsenden und mittlerweile schon besorgniserregenden Mangel an Fach- und ganz generell an Arbeitskräften an. Ich bin sicher, dass die richtigen Veränderungen hier Schwung bringen können. Wenn es gelingt, gut ausgebildete Fachkräfte aus anderen Ländern zu uns zu holen, wäre das ein wichtiger Beitrag. Das kann aber nur ein Baustein unter vielen sein, um den enormen Bedarf des Arbeitsmarktes zu decken. Die härtesten Zeiten des emergierenden demographischen Wandels stehen uns ja noch bevor. Mir stellt sich da zum Beispiel die Frage, wie lange wir es uns als Gesellschaft leisten wollen, auf ein ungenutztes Arbeitskräftepotenzial von rund zweieinhalb Millionen arbeitslosen Menschen zu verzichten.

Maximilian Wagenknecht, wie nehmen Sie die Gründungsbereitschaft von jungen Absolventinnen und Absolventen wahr?

Eines kann ich dazu auf jeden Fall sagen, an konkreten Ideen mangelt es nicht. Auch die Leuphana fördert aktiv, dass Studierende sich mit dem Thema Gründung auseinandersetzen. Das gilt gerade auch für viele Studierende aus nicht Management fokussierten Studiengängen.

In dem Kurs „Entrepreneurial Project“, in welchem ich gerade aktiv mit Studierenden am Thema Gründung und der konzeptionellen Weiterentwicklung von Ideen arbeite, zeigt sich, dass Studierende die Gründung von Unternehmen sehr fasziniert. Die Alternativoptionen, sei es zum Beispiel bei einem Konzern anzufangen, klingen aber oftmals sicherer und verlockender.

Durch die vielen Diskussionen ist mir klar geworden, dass sich viele aber auch bei Startups gerne innovativ und eigenverantwortlich mit einbringen möchten.  Besonderes Interesse bestand an dem Thema Intrapreneurship, also das unternehmerische Handeln innerhalb einer bestehenden Unternehmung. Vielen war diese Möglichkeit gar nicht bewusst. Dies ist zudem sogar in Form der Unternehmensgründung aus einem bestehenden Unternehmen heraus denkbar. Dieser Weg bietet sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für die Unternehmen selbst große Potentiale. Da sich hier die Chancen-Risikosituation aber auch die Anforderungen an die Gründerinnen und Gründer komplett verschiebt, bietet diese Thematik auch für meine eigene Forschung spannende Möglichkeiten.

Abschlussfrage eins an Sie beide: Wo steht Deutschland im Ganzen im Vergleich zum Norden des Landes, wo Ihre Universität beheimatet ist, wenn man die Entwicklung der Entrepreneurship-Kulturen betrachtet?

Grundsätzlich stehen wir sehr ordentlich da. Das zeigt sich etwa auch an den guten Ergebnissen, die wir hier in Lüneburg als Universität in den einschlägigen Vergleichsrankings (etwa im „Gründungsradar“ des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft: Platz 12 im aktuellen 2023-Radar) immer wieder erzielen. Nun muss man in dem Zusammenhang aber auch wissen, dass vor allem die Startup-Szene große regionale Unterschiede aufweist und sich zentrale urbane Hotspots herausgebildet haben, in denen sich starke Projekte, Investor*innen mit tiefen Taschen und eine Infrastruktur aus Beratung, Institutionen und anderen Intermediären tummeln. Dadurch entstehen Verbundwirkungen und standortbezogene Ökosysteme aus Menschen, Kapital und Infrastrukturen, die dann auch immer wieder andere Vorhaben ansaugen und so noch stärker werden. Da haben wir hier im Norden nur Hamburg als Hotspot in der ersten Liga und mit Hannover vielleicht noch einen kommenden.

Konkret für den Norden kann man zudem feststellen, dass die Metropolregionen wie Hamburg oder Bremen längst erkannt haben, dass Unterstützungsangebote und Fördermaßnahmen für Startups aktiv immer wieder ausgebaut, erneuert und nachgeschärft werden müssen, um mit emergierenden Entwicklungen mitzuhalten. Die Szene unterliegt ständigen rasanten Veränderungen, auf die auch Politik und Verwaltung reagieren müssen, soll ein Standort nicht abgehängt werden.

Lüneburg ist sicher ein eher kleinerer Player, hat aber die Vorteile einer Universität mit starkem Gründungsprofil und einer strategisch geschickt agierenden regionalen Gründungsförderung. Die setzt unter anderem auf drei wichtige Aspekte: Die Fokussierung auf geeignete Nischen zur Profilbildung, die starke Vernetzung aller Akteure und den Bau überregional wahrnehmbarer Leuchttürme wie der Lünale, die auch die Sichtbarkeit Lüneburgs als guten Ort für Gründungen erhöht.

Letzte Frage: Was sind die künftigen Forschungsfragen zum Feld Existenzgründungen und welche Kooperationspartner sind langfristig wichtig?

Fangen wir mal ganz groß an: Ein schon jetzt großes und in naher Zukunft noch an Bedeutung gewinnendes Thema dürfte KI – Künstliche Intelligenz sein. Sie wird nicht nur ganz neue und vielversprechende Geschäftsmodelle hervorbringen und insofern das Forschungsfeld auf der Unternehmensebene verändern. Diese Geschäftsmodelle werden die Forschung auch beschäftigen, weil sie das Potenzial mitbringen, Recht und Wirtschaft im Großen zu beeinflussen, indem sie beispielsweise ganze Branchen umkrempeln oder sogar neue erschaffen. Auch forschungsmethodisch wird KI eine immer größere Rolle spielen – als Werkzeug zur Gewinnung, Auswertung und Interpretation von Forschungsdaten. Dazu müssen Leute aus Gründungsforschung und IT kooperieren.

Im Kleinen sehen wir, durch unsere eigene Forschung getrieben, natürlich eine Vielzahl konkreter Einzelfragen. Wir arbeiten vor allem in den Bereichen Startup-Risikomanagement, Gründungsfinanzierung und frühe Unternehmens- und Organisationsentwicklung. Durch eigene Vorarbeiten in diesen Bereichen können wir die Themen schon konkreter und spezifischer benennen. Das betrifft etwa die Entwicklung von systematischen Risikomanagementkonzepten, das Investitions- und Finanzierungsverhalten von Family Offices oder den Einfluss von Finanzierung und Beratung auf die unternehmerische Frühentwicklung. Hier setzen wir auch künftig auf gute Kooperationen mit überregionalen institutionellen Partnern, anderen Universitäten und Forschungseinrichtungen und – nicht zuletzt – weiterhin gute Zusammenarbeit mit den regionalen Partnern vor Ort.