Berta Martin-Lopez und Studierende sind Mitautorinnen des neuen IPBES-Berichts

08.12.2022 Der Wert, den wir der Natur beimessen, beeinflusst, wie wir mit ihr umgehen! Leuphana-Professorin trägt mit Studierenden zum einflussreichsten Biodiversitätsbericht der Welt bei.

Die Werte, die wir mit der Natur verbinden, sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität, Kultur, Wirtschaft und Lebensweise. Doch mit welchen Methoden können wir sie erheben und bei Entscheidungen berücksichtigen? Im Oktober 2022 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat IPBES einen neuen Bericht, der diese Frage beantworten soll. Die Leuphana-Professorin Dr. Berta Martín-López und ihre Studentinnen Rieke Schneider und Jeanne Freitag sind daran beteiligt.

ÜBER IPBES

Die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES,) fungiert seit 2012 als Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Entscheidungen zu Biodiversität, Ökosystemen und menschlichem Wohlbefinden. Der Plattform gehören derzeit 139 Mitgliedstaaten an, wobei auch Organisationen und Akteure der Zivilgesellschaft beteiligt sind. Das IPBES-Sekretariat ist zwar keine Einrichtung der Vereinten Nationen, wird aber vom UN-Umweltprogramm gestellt und sitzt in Bonn, Deutschland. Ihre wissenschaftlich belegten und politisch anerkannten Berichte sollen helfen, die ökologischen Krise zu bewältigen.

Leuphana-Professorin Dr. Berta Martín-López und ihre Studentinnen Rieke Schneider und Jeanne Freitag ©Stella Eick
Leuphana-Professorin Dr. Berta Martín-López und ihre Studentinnen Rieke Schneider und Jeanne Freitag
Berta, Sie sind federführende und mitwirkende Autorin mehrerer Berichte des IPBES. Können Sie mit uns einen Blick hinter die Kulissen teilen?
Berta: Ja, ich bin fast seit den Anfängen des IPBES als eine der Hauptautor*innen des konzeptionellen Rahmens beteiligt, der allen Berichten zugrunde liegt und 2015 veröffentlicht wurde. Jede Bewertung dauert etwa vier Jahre. Sie ist sehr umfassend: Alle Menschen der Welt können den Entwurf auf IPBES.net kommentieren. Die Wissenschaftler*innen reagieren auf viele Tausende Kommentare, indem sie den Text anpassen. Dieser Prozess wird dreimal wiederholt, bevor die Bewertung veröffentlicht und die Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger*innen (Summary for Policymakers, SPM) geschrieben wird. Die SPM muss von allen IPBES-Mitgliedstaaten in den Plenarsitzungen genehmigt werden. Deshalb haben wir manchmal das Gefühl, der Text sei minimalistisch. Daran nehmen Hunderte von Teilnehmer*innen teil, auch Beobachter*innen aus Wirtschaft, Landwirtschaft, lokalen Kommunen, Vertreter*innen junger Generationen und Nachwuchsforscher*innen. Aber auch Interessengruppen wie die indigenen Völker können die Verhandlungen über die Delegationen der Staaten beeinflussen.
Was würden Sie am IPBES verbessern?
Berta: Zwar werden marginalisierte Gruppen wie indigene Völker und lokale Gemeinschaften bereits berücksichtigt, trotzdem gibt es noch Luft nach oben für nicht-heteronormative Geschlechter und für Menschen mit Behinderungen.
Zweitens ist die Arbeit für den IPBES sehr anspruchsvoll. An jedem Bericht arbeiten wir Wissenschaftler*innen viele Jahre, hauptsächlich in unserer Freizeit. Auf den Plenarsitzungen arbeiten wir ununterbrochen, stehen früh auf und gehen spät schlafen. Dabei bleibt wenig Raum für achtsame Arbeitsweisen. Ich würde gerne einen inneren Wandel des IPBES sehen. Wenn er Nachhaltigkeit beitragen will, muss er sich mehr auf das Wohlbefinden seiner Gemeinschaft konzentrieren, z. B. durch Achtsamkeit oder gewaltfreie Kommunikation.
Drittens ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die wissenschaftlichen Empfehlungen der IPBES-Berichte für die politischen Entscheidungsträger*innen nicht bindend sind.
Was ist Ihr Beitrag zum neuen Bericht?
Berta: Ich habe zusammen mit anderen Autor*innen und koordiniert von Professor Sander Jacobs das Protokoll zur Überprüfung der Literatur über die Bewertung der Natur erstellt, das ein Schlüsselelement des dritten Kapitels ist. Wir haben herausgefunden, mit welchen wissenschaftlichen Methoden die Natur in verschiedenen sozialen und ökologischen Umfeldern sowie durch individuelle und kollektive Entscheidungen bewertet wird. Dabei haben wir festgestellt, dass jede Methode eine andere Auswahl von Werten ermittelt und dass keine Methode alle Werte der Natur erfassen kann.
Die Durchsicht der Literatur war ein gewaltiger Arbeitsaufwand. Deshalb habe ich um Unterstützung gebeten und freue mich, dass fünf Studierende der Leuphana Universität Lüneburg als Autor*innen mitgewirkt haben: Hanne Carla Bisjak, Jeanne Freitag, Mira Kracke, Rieke Schneider und Alyssa Solvie.
Jeanne und Rieke, warum haben Sie die Chance ergriffen, als Autorinnen zum dritten Kapitel beizutragen?
Jeanne: Ich wollte einen tieferen Einblick in Wissenschaft und Methoden gewinnen. Als Berta uns einlud, wusste ich, dass es eine Herausforderung, aber auch sehr spannend sein würde.
Rieke: Was mich faszinierte, war eine - wenn auch kleine - Rolle in einem so großen Prozess zu spielen, an dem so viele Forscher*innen und Nationen beteiligt sind. Die Logistik hinter dem Papier hat mich beeindruckt.
Wofür waren Sie verantwortlich?
Jeanne: Jede studentische Hilfskraft sammelte sechs Monate lang Daten aus 100 Studien, beginnend mit einer Schulung durch die Hauptautor*innen des IPBES im April 2020. Dabei haben wir mit Wissenschaftler*innen und Studierenden aus vielen Ländern wie Dänemark und Mexiko zusammengearbeitet.
Berta: Im Vorfeld erstellten wir einen Leitfaden zur Kodierung der wissenschaftlichen Arbeiten auf der Basis von Bewertungsmethoden, Werttypen und Konzepten wie Umwelt- und Generationengerechtigkeit, Partizipation, Anerkennung und Einbeziehung von Interessengruppen wie indigene Völker und ihres Wissens.
Was haben Sie dabei gelernt?
Jeanne: Ich habe viel über die Qualität der Studien gelernt. Einige waren klar strukturiert, und wir wussten, wo wir welche Informationen finden konnten. Andere mussten wir im Detail lesen.
Wie hat die Aufgabe Ihre Fähigkeiten entwickelt?
Rieke: Ich habe das Gefühl, dass ich nun selbst Artikel schreiben kann, schon allein, weil ich so viele gelesen und verstanden habe, wie die Struktur funktioniert. Nachdem ich das Erlernte aus den ersten Semestern angewendet habe, fühle ich mich jetzt sehr gefestigt in meinem methodischen Wissen.
Wie hat die Arbeit Ihre Karrierepläne beeinflusst?
Rieke: Wir haben einen Fuß in die Tür gestellt. Ich möchte gerne mehr über die Schnittstelle von Wissenschaft und Politik lernen.
Jeanne: Wir haben auch erlebt, dass Wissenschaft harte Arbeit ist. Die SPM basiert auf soliden wissenschaftlichen Studien und erwähnt z. B., dass indigene Völker einbezogen und Postwachstumsperspektiven berücksichtigt werden sollen. Durch die Zustimmung der Mitgliedsstaaten findet das nun breite politische Zustimmung. Früher dachte ich, dass Wissenschaft nur die Produktion von Wissen ist; jetzt spüre ich ihren Einfluss auf die Gesellschaft.
Zurück zum Bericht: Was sind die Ergebnisse des dritten Kapitels?
Berta: Es gibt 50 Methoden zur Bewertung der Natur, aber nur 2 % werden für politische Entscheidungen verwendet. Am beliebtesten sind ökonomische Methoden, die zu einer Monetarisierung von Ökosystemen führen. Bisher werden vor allem die wirtschaftlichen Kosten von Projekten bestimmt durch Instrumente wie die Umweltverträglichkeitsprüfung. Wir vermissen Studien, die kulturelle Werte sowie mehr und marginalisierte Gruppen berücksichtigen. Nur 1 % aller untersuchten Studien bezieht Betroffene in jeden Schritt der Bewertung ein und nur 2 % konsultieren sie zu den Ergebnissen.
Jeanne: Diese Diskrepanz zwischen der Verfügbarkeit und Anwendung von Methoden haben wir auch in der Wissenschaft festgestellt. Viele Arbeiten betonen, dass interne Machtdynamiken in der kollaborativen Forschung betrachtet werden sollten, aber nur sehr wenige Arbeiten reflektieren diese - weniger als 1 %. Und nur etwa 5 % kombinieren Methoden und damit unterschiedliche Werte der Natur.
Warum werden interdisziplinäre Methoden so selten angewandt?
Berta: Ich denke, das liegt erstens daran, dass nur wenige Forscher*innen verschiedene Disziplinen kombinieren können, die für ein ganzheitliches Verständnis der Realität unerlässlich sind. Zweitens ist das möglicherweise aufwändiger - nicht in Form von Zeit oder Geld -, sondern in Form von Humanressourcen, z. B. für die Ausbildung von Menschen und die Einbeziehung von Interessengruppen. Drittens bilden ökonomische Methoden den Mainstream wegen des Irrglaubens, dass Wandel auf Kosten-Nutzen-Analysen oder wirtschaftlicher Rationalität beruht. Der IPBES-Bericht zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Viele Methoden, wie z. B. Storytelling oder Interviews, bewerten auch nicht-wirtschaftliche Werte, wie Spiritualität, Ortsverbundenheit oder Verantwortungsbewusstsein. Wir hoffen, dass in Zukunft auch solche Werte in Entscheidungsprozesse einfließen.
Warum ist es wichtig, die Zivilgesellschaft und indigene Völker in die Bewertung der Natur einzubeziehen?
Jeanne: Das erhöht auch Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidungen umgesetzt werden.
Berta: Aus einer normativen Perspektive ist es eine Frage von Gerechtigkeit. Wenn wir eine nachhaltige Zukunft anstreben, sind wir dafür verantwortlich, dass in allen wissenschaftlichen und politischen Prozessen auch die Stimmen von marginalisierten Gruppen berücksichtigt werden. Andernfalls bleibt unklar, wie sie die Natur bewerten und was die wahren Kosten unseres Handelns sind.
Was erwarten Sie von dem Bericht?
Berta: Für mich besteht die Bedeutung dieses Berichts darin, eine Vielfalt von Werten der Natur zu zeigen, die sich nicht in die von der westlichen Wissenschaft geförderten Mainstream-Vorstellungen einfügen. In der Vergangenheit hieß es, dass die Natur ein Recht auf Existenz hat, oder dass die Natur uns Ressourcen zur Verfügung stellt. Der neue Bericht vertritt eine andere Weltsicht: Der Mensch ist Teil der Natur. Und das wurde von 139 Mitgliedstaaten des IPBES bestätigt.
Warum ist diese neue Sichtweise so wichtig?
Berta: Der Bericht hilft uns zu verstehen, dass wir unsere Beziehungen zur Natur pflegen müssen.
Jeanne: Die können wir nicht gegen wirtschaftliche Güter eintauschen. Und für Umweltschutz müssen wir nicht unsere Gesundheit opfern, sondern er kann uns glücklich machen.
Was ist der Unterschied zwischen "die Natur nützt dem Menschen" und "der Mensch ist Teil der Natur"?
Berta: Die Narrative sind nicht unabhängig voneinander. Man kann zum Beispiel im Wald Pilze für das Abendessen sammeln, was bedeutet, dass man von der Natur profitiert. Trotz dieser instrumentellen Motivation, baut man eine Beziehung zum Wald auf. Je öfter Sie in den Wald gehen, desto mehr schätzen Sie vielleicht seine bloße Existenz. Je nachdem, wie Sie Ihre Beziehung zur Natur betrachten, behandeln Sie sie unterschiedlich. Wenn man die Natur nur als Mittel zum Zweck betrachtet, führt das nicht zu einer verantwortungsvollen Haltung. Aber durch die Einbeziehung von Erzählungen wie "der Mensch ist Teil der Natur" können wir die Idee des Lebens in Harmonie fördern. Dies ist Teil der Kosmologien vieler indigener Völker oder nicht-westlicher Traditionen wie dem Buddhismus und Ubuntu.
Welche Handlungsmacht hat die Gesellschaft im Sinne des Berichts?
Rieke: Unser größter Hebel ist es, individuelle, aber auch gesellschaftliche Narrative über die Natur zu verändern, denn sie beeinflussen unsere Entscheidungen.
Berta: Erstens kann jeder von uns seine Beziehung zur Natur pflegen, z.B. indem wir im Wald unterrichten, anstatt in Seminarräumen. Zweitens können wir versuchen, die relationalen Werte der indigenen Völker und lokalen Gemeinschaften zu schützen. Informieren Sie sich über die Auswirkungen bestimmter Produkte und treffen Sie Entscheidungen wie: „Nein, ich werde nichts konsumieren, was indigene Gemeinschaften aus ihrem Gebiet verdrängt.“
Jeanne: Ich glaube, viele Menschen in Deutschland fühlen sich von der Natur entkoppelt, und andere glauben ihr nur zu schaden. Aber unsere Beziehung kann auf Gegenseitigkeit beruhen: Die Natur trägt nicht nur zu unserem Wohlbefinden bei; wir können uns entscheiden, auch ihr gut zu tun.
Vielen Dank!
Das Interview führte Stella Eick.