Biodiversitätsverlust: Werner Härdtle veröffentlicht Grundlagenwerk
29.10.2024 20 000 bis 30 000 Arten sterben jährlich aus, schätzen Forscher*innen. Die Konsequenzen sind dramatisch: „Die biologische Vielfalt ist Grundlage unseres Wohlstandes“, erklärt der Professor (i.R.) für Ökologie. Ohne Artenvielfalt entfallen so genannte Ökosystemleistungen wie Bestäubung, Küstenschutz oder Kohlenstoffspeicherung. Das rund 900-seitige Buch „Biodiversität, Ökosystemfunktionen und Naturschutz“ erläutert die Problematik auf allgemeinverständliche Weise.

Herr Professor Härdtle, die Wissenschaft weiß längst um den dramatischen Artenverlust und die Konsequenzen für den Menschen. Warum wird in der Öffentlichkeit kaum über die Biodiversitätskrise gesprochen?
Die Problematik des Klimawandels ist lange bei den Menschen und bei der Politik angekommen. Für die Biodiversitätskrise gilt dies leider nicht. Vielleicht ist es nach Corona, Krieg und Klimawandel die eine Krise zu viel. Dabei sind Klimawandel und Biodiversitätsverlust eng miteinander verknüpft: Wegen der steigenden Temperaturen müssen etwa kälteliebende Arten weiter gen Norden oder in höhere Lagen wandern. Aber irgendwann wird es dort auch zu warm sein. Umgekehrt kann eine große Biodiversität negative Effekte des Klimawandels abpuffern. Artenreiche Ökosysteme sind stabiler gegenüber klimatischen Veränderungen: Beispielsweise kann Schattenwurf durch Pflanzen im Oberstand lichtempfindliche Arten vor zu starker Sonneneinstrahlung schützen. Ein anderes Beispiel ist das Phänomen der so genannte „hydraulic lift“. Bei diesem Prozess wird Wasser von Pflanzenwurzeln einer tief wurzelnden Art in unteren, feuchteren Bodenschichten aufgenommen und später - meist in der Nacht - an oberflächennahe, trockenere Schichten abgegeben. Pflanzen in oberen Bodenschichten profitieren. Eine Monokultur dagegen ist in aller Regel nur ertragreich, wenn günstige Witterungsbedingungen, beispielsweise ausreichende Niederschläge bestehen.
In der Schule haben wir noch gelernt, dass alle Arten miteinander in Konkurrenz stehen. Stimmt das also gar nicht?
Ich bin in meiner Ausbildung auch mit dieser Vorstellung groß geworden: Arten stehen im Wettbewerb und konkurrieren um Ressourcen. Das ist nicht falsch, aber diese Vorstellung ist – wie wir heute wissen – doch völlig unvollständig. Arten „unterstützen“ sich auch gegenseitig. Das ist ein ganz wesentlicher Mechanismus in der Ökologie und der Koexistenz von Arten. Auf diese Weise können in Ökosystemen beim Aussterben von Arten negative Kaskadeneffekte entstehen. Über mehrere trophische Ebenen hinweg verschwinden so Arten und damit deren unterstützende Funktionen. Das Beispiel eines Mykorrhiza-Netzwerkes verdeutlicht dies: Das weißliche Netz im Boden ist das „Feinwurzelwerk“ eines Pilzes, das verschiedene Pflanzen miteinander verbindet und den Austausch von Nährstoffen und Wasser unterstützt.
Beispielsweise können Pflanzen Kohlenstoffverbindungen in das Mykorrhiza-Netzwerk investieren und im Gegenzug Nährstoffe erhalten. Auch können über solche Pilz-Netzwerke chemische Signalstoffe ausgetauscht werden. Wird beispielsweise eine Pflanze innerhalb dieses Netzwerkes von dem einem herbivoren Insekt befallen, wird ein chemischer Signalstoff produziert, der Prädatoren anlockt, die den Schädling fressen. Oftmals werden gerade konkurrenzschwache oder gegenüber bestimmten Umweltbedingungen sensible Arten innerhalb dieser Symbiosen besonders gestützt. Diese Mechanismen und ihre ökologische Bedeutung müssen wir in der Kommunikation viel deutlicher herausarbeiten.
Was passiert, wenn wir nichts gegen das Artensterben unternehmen?
Eine funktionierende biologische Vielfalt ist Grundlage unseres Wohlstands. Die Kernhypothese der funktionellen Biodiversitätsforschung lautet: Artenverlust mindert die Funktionstüchtigkeit der Systeme und die für den Menschen erbrachten Serviceleistungen wie Bestäubung, Kohlenstoffspeicherung, Dungabbau, Küstenschutz, Bodenbildung oder Bereitstellung von Rohstoffen für Arzneien. Das Buch zeigt viele, oft erst vor wenigen Jahren gewonnene und daher wissenschaftlich neue Beispiele für diese Hypothese auf. Wir sehen, dass Systeme nicht mehr gut funktionieren, wenn Arten verschwinden. Erträge brechen ein, Kreisläufe werden instabil.
Trotz der Relevanz von Flora und Fauna – hier mit Insekten als artenreichste Gruppe – halten sich Begriffe Unkraut und Ungeziefer hartnäckig. Wie können wir lernen, Biodiversität mehr zu schätzen?
Es gibt verschiedene Zugänge. Studien belegen beispielsweise, dass artenreiche Ökosysteme den Stressabbau begünstigen. Ethische Zugänge zeigen unsere Pflicht auf, die Natur um ihrer selbst willen zu erhalten, aber auch für künftige Generationen. Und es gibt eine sozioökonomische Dimension: Bereits vor rund 20 Jahren berechneten Wissenschaftler den wirtschaftlichen Schaden, der durch zunehmenden Artenverlust verursacht wird. Für unsere Warmwasser-Korallenriffe geht man von einer Wertschöpfung von 170 bis 180 Milliarden Dollar im Jahr durch Fischfang und Küstenschutz aus. Aber diese Riffe werden wahrscheinlich alle bis zum Ende dieses Jahrhunderts absterben. Ein anderes Beispiel ist der ökonomische Wert der Bestäubung durch Honigbienen, Wildbienen, Schmetterlinge, Schwebfliegen und andere Insekten: Diese Arten sichern einen großen Teil unserer Nahrungsmittelproduktion. Der Biodiversitätsverlust hat für uns dramatische Konsequenzen und entscheidet nicht darüber, wie wir leben, sondern ob wir leben.
Vielen Dank für das Gespräch!
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- Prof. Dr. Werner Härdtle