20 Jahre ZDEMO: „Politikwissenschaft ist Demokratiewissenschaft“

03.06.2024 Das Zentrum für Demokratieforschung (ZDEMO) beschäftigt sich mit der Analyse demokratischer Strukturen und Prozesse in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt. Kernthema der Forschung sind Fragen von Legitimität und Leistungsfähigkeit von Demokratien. Der Gründungsdirektor Prof. Dr. Ferdinand Müller-Rommel, vormals als ordentlicher Professor und nach Eintritt in den Ruhestand inzwischen als Gastprofessor an der Leuphana tätig, blickt auf zwei erfolgreiche Jahrzehnte in der Forschung zurück.

©Leuphana/Marie Meyer
©Leuphana/Marie Meyer
©Leuphana/Marie Meyer
Herr Professor Müller-Rommel, Sie gründeten vor 20 Jahren das ZDEMO. Wo sehen Sie die Relevanz heute?

Politikwissenschaft ist Demokratiewissenschaft. Bei den aktuellen Herausforderungen an unsere Demokratie ist es heute noch dringlicher als vor 20 Jahren das Spannungsverhältnis von Legitimität und Leistungsfähigkeit liberaler Demokratien zu erforschen. Heute geht es zentral um die Frage, wie stark die demokratischen Grundwerte von autokratischem Denken und Handeln tangiert werden. Wir beobachten gegenwärtig weltpolitisch einen Wettlauf zwischen Demokratien und Autokratien, der auch auf wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verflechtungen zurückzuführen ist. Gegenwärtig stellt sich ernsthaft die Frage, in welcher politischen Welt wir in 50 Jahren leben werden. Das ZDEMO wird zur Beantwortung dieser Frage einen entscheidenden Beitrag leisten.

Wie resilient ist unsere Demokratie?

Auf diese Frage gibt es noch keine gesicherte Antwort. Einige Vertreter behaupten, dass Demokratien im letzten Jahrzehnt erodiert sind und tendenziell von autokratischem Denken und Handeln überrollt wurden. Andere, argumentieren, dass die demokratischen Wertestrukturen seit Jahrzehnten stabil sind und gegenüber den aktuellen rechtspopulistischen Herausforderungen widerstandsfähig bleiben. Zu beiden Positionen wird im ZDEMO in den nächsten Jahren intensiv geforscht.

Wie unterstützt die Politikwissenschaft die Resilienz der Demokratie?

Lassen Sie mich mit einem Bild aus der Medizin antworten: Die Demokratie ist erkrankt, aber nicht gestorben. Politikwissenschaftliche Forschung nimmt zunächst eine Anamnese vor, das heißt: Wir beschreiben systematisch die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen demokratischer Systeme und fragen uns: Was hat die Demokratie krankgemacht? Dem folgt die Diagnose: Hier untersuchen wir die Symptome der kranken Demokratie. Mit welchen politischen Herausforderungen ist die Demokratie aktuell konfrontiert? Schließlich folgt die Therapie, welche Handlungsanweisungen können wir geben, damit die Demokratie stabil bleibt und nicht stirbt?

Die hohe wissenschaftliche Relevanz des ZDEMO zeigt sich auch im Shanghai-Ranking. Wo steht die Leuphana in der Politikwissenschaft?

Das Shanghai-Ranking bewertet unter anderem Publikationsleistung und Höhen der eingeworbenen Drittmittel. Wir stehen mit dem ZDEMO international gut da und sind deutschlandweit auf Platz 13 hinter vielen großen und traditionsreichen Universitäten. In Niedersachsen sind wir sogar auf Platz 1 aller politikwissenschaftlichen Institute. Das ist ein großer Erfolg. Unter den kleinen und mittleren deutschen Universitäten belegen wir den dritten Rang und der Wert ist dank hoher Publikationsleistungen und erfolgreicher Drittmittelanträge der Kolleginnen und Kollegen im ZDEMO bislang stabil geblieben.

Warum wurde das ZDEMO gegründet?

Das interdisziplinäre „Zentrum für Demokratieforschung“ wurde am 2. Juni 2004 auf Empfehlung der Wissenschaftlichen Kommission des Landes Niedersachsen unter dem Vorsitz von Professor Dr. Hans Dieter Klingemann gegründet. Er erkannte, dass deutschlandweit kein Zentrum für Demokratieforschung existierte, das sich systematisch mit Legitimationsfragen von Demokratie beschäftigt. Die Gründung des ZDEMO fiel in die Zeit der europäischen Transformation, als ost- und mitteleuropäische Staaten in die EU aufgenommen wurden. Zu Ehren von Professor Klingemann haben wir eine ‚Distinguished Lecture‘ eingerichtet, zu der wir im Juni jeden Jahres renommierte Wissenschaftler*innen einladen, etwa aus Princeton, Harvard, der London School of Economics oder der University of California.

Sie haben beim ZDEMO von Anfang an auf den wissenschaftlichen Nachwuchs gesetzt. Warum?

Die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses sollte zu den Kernaufgaben jeder Professur zählen. Wir waren alle einmal wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und auf eine gute akademische Sozialisation unserer ehemaligen Professoren angewiesen. Deshalb haben wir über viele Jahre am ZDEMO internationale PhD-Summer Schools im Bereich der Parteien- und Demokratieforschuung organisiert, die vom DAAD, von der EU, von der Volkswagenstiftung und vom MWK finanziert wurden. Dadurch wurde das ZDEMO, insbesondere für die Nachwuchswissenschaftler*innen innerhalb und außerhalb Deutschlands bekannt. Viele ehemalige Teilnehmer*innen der Summer School sind heute Professoren*innen und erinnern sich sehr gerne an ihr PhD-Training in Lüneburg. Zudem haben wir in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich mehrere DFG-Drittmittelprojekte eingeworben, um wissenschaftlichen Nachwuchs einzustellen und mit unseren Forschungsthemen vertraut zu machen.

Von 2006 bis 2012 waren Sie Vize-Präsident und bauten die Graduate School auf. Wie haben Sie dort das Promotionsstudium geprägt?

Wir haben ein teilstrukturiertes Promotionsstudium entwickelt: Alle Doktorandinnen und Doktoranden an der Leuphana belegen seither begleitende Kurse, etwa zur Wissenschaftstheorie und zu wissenschaftlichen Methoden. Mit diesem Studienmodel konnten wir die besten Doktorandinnen und Doktoranden für unser Promotionskolleg ‚Demokratie unter Stress‘ an die Leuphana holen. Für dieses ZDEMO-Promotionskolleg hat das MWK zehn Vollstipendien für jeweils drei Jahre finanziert. Unsere Erfolgsquote bei den Promotionsabschlüssen war entsprechend außergewöhnlich hoch.

Wo liegen die inhaltlichen Schwerpunkte des ZDEMO?

Inhaltlich basiert unsere Arbeit auf drei Säulen: Erstens, auf die Erforschung von Wertewandel und Human Empowerment; dabei geht es u.a. um die Analyse von Einstellungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zur Demokratie. Zweitens untersuchen wir die Funktionsweise von demokratischen Institutionen und politischen Akteuren in Europa. Und drittens analysieren wir neue politische Beteiligungsformen und die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Ein Meilenstein ist zudem die inhaltliche Zusammenarbeit mit dem German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg im Bereich der internationalen Politik. Wir haben mit dem GIGA im Jahr 2012 eine gemeinsame Juniorprofessur geschaffen, die seither regelmäßig verlängert wird.

Mitte der 2000er Jahre forschte das ZDEMO auch im Auftrag der Landesregierung. Was war Untersuchungsgegenstand?

Wir haben empirische Projekte zur Verwaltungsmodernisierung und zum niedersächsischen Modellkommunengesetz durchgeführt. Der damalige Ministerpräsident Christian Wulff wollte die öffentliche Verwaltung entbürokratisieren. Seine These war, dass zahlreiche Landesgesetze überflüssig sind, weil sie nie angewendet werden. Diese Annahme konnten wir empirisch bestätigen. Die Projekte wurden vom Land finanziert und zusammen mit zahlreichen wissenschaftlichen Mitarbeitern bearbeitet, die zwischenzeitlich in der Landesverwaltung tätig sind.

Ihr jüngster großer Wurf war die Politologen-Konferenz mit 480 Forscherinnen und Forschern auf dem Campus im Frühjahr 2024. Warum war es Ihnen wichtig, die internationale Politikwissenschaft an der Leuphana zu versammeln?

Das European Consortium for Political Research (ECPR) ist ein zentraler Akteur in der weltweiten Vernetzung politikwissenschaftlicher Forschung. Ich wollte vor meinem endgültigen Eintritt in den Ruhestand noch einmal das ZDEMO und die Politikwissenschaft an der Leuphana auf die internationale Landkarte setzen. Dem ECPR verdanke ich sehr viel. Über 20 Jahre habe ich an ECPR Konferenzen teilgenommen. Ohne die Teilnahme hätte ich meine Forschung nicht betreiben können.

Was geben Sie Ihren Kollegen und Kolleginnen zum Abschied mit?

In den vergangenen 20 Jahren haben wir es gemeinsam geschafft, eine hohe nationale und internationale fachwissenschaftliche Reputation aufzubauen. Vom Doktoranden über die Post-Docs, Juniorprofessor*innen, und Professor*innen haben alle ZDEMO Mitglieder in Forschung und Lehre über viele Jahre hinweg gleichbleibend einen vollen Einsatz gezeigt. Wir haben gemeinsam eine hohe Identifikation mit dem Zentrum entwickelt und somit dem ZDEMO zum Erfolg verholfen. Die Demokratieforschung wird an der Leuphana bleiben und mit einer breiteren Themenausrichtung weiterleben. Fachlich ist das ZDEMO heute mit den neuen Kolleginnen und Kollegen in den besten Händen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Zentrum für Demokratieforschung lädt am 11. Juni 2024 zur Hans-Dieter-Klingemann-Vorlesung ein. Prof. Dr. Michael Bernhard von der University of Florida (Gainesville) spricht von 14 bis 16 Uhr über „Party System Institutionalization and the Durability of Competitive Authoritarian Regimes“. Der Vortrag ist im Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg, Raum 501.

Kontakt

  • Prof. Dr. Ferdinand Müller-Rommel